»Ich bin's, Onkel Nunzio - Salvatore!«
Im nächsten Augenblick öffnete Nunzio Martini die Haustür und erschien im Nachthemd auf der Schwelle. Salvatores Onkel war etwa fünfzig Jahre alt, ein rundlicher Mann mit kräftiger Adlernase und silbergrauer Mähne. Er starrte seinen Neffen erstaunt an. »Salvatore! Wo kommst du her mitten in der Nacht? Wo sind deine Eltern?«
»Die sind tot«, schluchzte der Junge.
»Tot? Komm, komm rasch ins Haus!«
Salvatore stolperte ins Haus.
»Wie schrecklich!« rief sein Onkel aus. »Sind sie verunglückt?«
Salvatore schüttelte den Kopf. »Don Vito hat sie ermorden lassen.«
»Ermorden? Aber warum?«
»Mein Vater hat sich geweigert, Land von ihm zu pachten.«
»Ah .«
»Warum hat er sie umbringen lassen? Sie haben ihm nie was getan!«
»Das ist nichts Persönliches«, behauptete Nunzio Martini.
Salvatore starrte ihn an»Nichts Persönliches?« wiederholte er ungläubig. »Das verstehe ich nicht!«
»Don Vito ist weithin bekannt. Er genießt einen gewissen Ruf und ist einUomo rispettato - ein geachteter, einflußreicher Mann. Hätte er zugelassen, daß dein Vater sich gegen ihn auflehnt, wären andere diesem Beispiel gefolgt, was den Verlust seiner Macht bedeutet hätte. In diesem Fall ist nichts zu machen.«
Der Junge starrte ihn entgeistert an. »Nichts?«
»Nicht gleich, Salvatore. Vielleicht später. Schlaf dich erst mal aus, dann sehen wir weiter.«
Am nächsten Morgen frühstückten sie gemeinsam.
»Wie würde es dir gefallen, in diesem schönen Haus zu wohnen und für mich zu arbeiten?« Nunzio Martini war Witwer.
»Das wäre nicht schlecht, glaube ich«, antwortete Salvatore.
»Ich könnte einen aufgeweckten Jungen wie dich brauchen. Und du siehst kräftig aus.«
»Ichbin kräftig«, versicherte sein Neffe ihm.
»Gut.«
»In welcher Branche bist du tätig, Onkel?« fragte Salvatore.
Nunzio Martini lächelte. »Ich beschütze Leute.«
In Sizilien und weiteren armen Landstrichen Italiens war die Mafia zum Schutz der Bevölkerung vor der rücksichtslos autokratischen Regierung entstanden. Die Mafia korrigierte Ungerechtigkeiten, rächte Unrecht, und sie erpreßte Schutzgelder von Bauern, Kaufleuten und Gewerbetreibenden.
Nunzio Martini war dercapo der Mafia in Palermo. Er trieb die Schutzgelder ein und ließ Zahlungsverweigerer bestrafen. Die Strafe konnte aus einem Arm- oder Beinbruch bis hin zu einem qualvoll langsamen Tod bestehen.
Salvatore trat in die Dienste seines Onkels.
In den folgenden fünfzehn Jahren war Palermo die Schule des Jungen - und sein Onkel Nunzio sein Lehrer. Salvatore Martini begann als Laufbursche, brachte es später zum Geldeintreiber und wurde zuletzt die vertraute rechte Hand seines Onkels.
Mit fünfundzwanzig Jahren heiratete er Carmela, ein üppig gebautes sizilianisches Mädchen. Nun zog Salvatore mit Frau und Kind in ein eigenes prächtiges Haus. Als sein Onkel starb, übernahm er dessen Position alscapo und wurde noch erfolgreicher und wohlhabender. Aber er hatte noch eine offene
Rechnung zu begleichen.
Eines Tages forderte er seine Frau auf: »Pack' unsere Sachen zusammen. Wir wandern nach Amerika aus.«
Carmela starrte ihn überrascht an. »Was willst du in Amerika?«
Er war es nicht gewöhnt, sich ausfragen zu lassen. »Tu gefälligst, was ich sage! Ich muß verreisen. In zwei, drei Tagen bin ich wieder da.«
»Salvatore ...«
»Du sollst packen.«
Eine schwarze Kutsche hielt vor dem Polizeirevier der Kleinstadt, in deren Nähe Ghibellina lag. Dercapitano, der inzwischen zehn Kilo zugelegt hatte, saß an seinem Schreibtisch, als sechs Männer hereinkamen. Sie waren gut angezogen und sahen wohlhabend aus.
»Guten Morgen,signori. Was kann ich für Sie tun?«
»Wir sind gekommen, um etwas fürSie zu tun«, antwortete Salvatore. »Erinnern Sie sich an mich? Ich bin der Sohn Giuseppe Martinis.«
Der Uniformierte starrte ihn an.»Sie!« rief er aus. »Was tun Sie hier? Das ist gefährlich für Sie!«
»Ich bin wegen Ihrer Zähne gekommen.«
»Wegen meiner Zähne?«
»Ja.« Salvatore zog seinen Revolver. Zwei der Männer rissen den Polizeibeamten hoch und hielten ihn an den Armen fest. »Sie müssen mal zum Zahnarzt. Aber ich nehme Ihnen die Mühe gern ab.«
Salvatore Martini steckte ihm die Revolvermündung zwischen die Zähne und drückte ab.
Dann nickte er seinen Leuten zu. »Los, wir müssen weiter!«
Eine halbe Stunde später erreichten sie Don Vitos Haus. Die beiden Wachen sahen der Kutsche mißtrauisch entgegen. Als sie hielt, stieg zunächst nur Salvatore aus.
»Guten Morgen«, sagte er. »Don Vito erwartet uns.«
Der Angesprochene runzelte die Stirn. »Wir wissen nichts von irgendeinem .«
Im nächsten Augenblick waren die beiden Wachposten von Kugeln durchsiebt.
Im Haus hörte Don Vito die Schüsse. Er sah durch ein Fenster, was geschehen war, lief an den Schreibtisch und holte eine Pistole aus der Schublade. »Francesco!« rief er laut. »Antonio! Schnell!«
Draußen fielen weitere Schüsse.
Eine Stimme sagte: »Don Vito .«
Er fuhr herum.
An der Tür stand Salvatore Martini mit seinem Revolver in der Hand. »Weg mit der Waffe!«
»Ich .«
»Weg damit!«
Don Vito ließ die Pistole fallen. »Nimm dir, was du haben willst, und verschwinde!«
»Ich will nichts«, antwortete Salvatore, indem er langsam näherkam. »Tatsächlich bin ich hier, weil ich Ihnen etwas schuldig bin.«
Don Vito hob abwehrend die Hände. »Geschenkt! Ich verzichte gern darauf.«
»Aber ich nicht. Wissen Sie, wer ich bin?«
»Nein.«
»Salvatore Martini.«
Der Alte runzelte die Stirn, während er sich zu erinnern versuchte. Dann zuckte er mit den Schultern. »Der Name sagt mir nichts.«
»Vor über fünfzehn Jahren haben Ihre Leute meine Eltern ermordet.«
»Eine Schande!« rief Don Vito aus. »Ich sorge dafür, daß sie bestraft werden! Ich .«
Salvatore holte aus und zerschmetterte ihm mit dem Revol-vergriff das Nasenbein. Ein Blutstrom schoß aus der Nase des Alten. »Aufhören!« keuchte Don Vito. »Ich ...«
Der Eindringling zog sein Messer. »Runter mit der Hose!«
»Wozu? Du kannst mich nicht .«
Salvatore hob den Revolver. »Los, runter mit der Hose!«
»Nein!« Don Vitos Stimme überschlug sich beinahe. »Überleg' dir gut, was du tust! Ich habe Brüder und Söhne. Wenn du mir etwas antust, spüren sie dich auf und erschlagen dich wie einen tollwütigen Hund.«
»Erst müssen sie mich finden«, stellte Salvatore Martini fest. »Runter mit der Hose!«
»Nein.«
Salvatore drückte ab und traf die linke Kniescheibe. Don Vito schrie gellend auf.
»Ich helfe Ihnen«, sagte Salvatore. Er streifte dem Alten erst die Hose, dann die Unterhose herunter. »Viel ist nicht mehr da, was? Aber das muß reichen.« Er packte Don Vitos Glied und schnitt es ab.
Der Alte wurde ohnmächtig.
»Schade, daß es hier keinen Brunnen gibt, in den ich dich werfen könnte«, erklärte Salvatore dem Bewußtlosen. Er jagte ihm eine Kugel durch den Kopf, machte kehrt und verließ das Haus. Seine Männer warteten in der Kutsche auf ihn.
»Los!«
»Er hat eine große Familie, Salvatore. Die machen bestimmt Jagd auf dich.«
»Von mir aus.«
Zwei Tage später befand Salvatore sich mit Frau und Sohn an Bord eines Schiffes nach New York.
Gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts waren die Vereinigten Staaten das Land der unbegrenzten Möglichkeiten. New York hatte einen hohen italienischen Bevölkerungsanteil. Viele von Salvatores Freunden waren schon früher dorthin ausge-wandert und lebten von dem, was sie am besten verstanden: Schutzgelderpressung. Die Mafia begann, ihre Fühler auszustrecken. Salvatore machte aus Martini den amerikanischen Namen Martin und blieb auch in seiner neuen Heimat reich und angesehen.
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