»Genug geredet«, sagte Claire. »Hier ist mein Retter an diesem Tag, Squire Christopher de Hewes. Er hat mich bewahrt vor den
Nachstellungen Sir Guys, der sich mit Gewalt nehmen wollte, was ihm bei Hofe aus freien Stücken nicht gewährt wird.«
Chris sagte: »Nein, nein, das war überhaupt nicht so —«
Er brach ab, als er merkte, daß alle ihn mit offenem Mund und weit aufgerissenen Augen anstarrten.
»Fürwahr, er spricht merkwürdig«, sagte Claire, »denn er kommt aus einem abgelegenen Teil des Landes Eire. Und er ist bescheiden, wie es einem Edelmann geziemt. Er hat mich in der Tat gerettet, und so werde ich ihn heute meinem Vormund vorstellen, sobald Sir Christopher angemessen gewandet ist.« Sie wandte sich einem der Mädchen zu. »Hat nicht unser Pferdemeister, Squire Brandon, dieselbe Größe? Geh und hol mir sein blaues Wams, seinen silbernen Gürtel und seine besten weißen Beinlinge.« Sie gab dem Mädchen einen Beutel. »Bezahle ihm, was er verlangt, aber mach schnell.«
Das Mädchen eilte davon. Im Hinausgehen kam es an einem düsteren
älteren Mann vorbei, der im Schatten stand und die Szene beobachtete.
Er trug eine schwere Robe aus kastanienbraunem Samt mit aufgestickten silbernen Lilien und einem Hermelinkragen. »Wie steht's, Mylady?« sagte er und trat zu ihnen.
Sie knickste vor ihm. »Gut, Sir Daniel.«
»So seid Ihr wohlbehalten zurück.«
»Ich danke Gott dafür.«
Der düstere Mann schnaubte. »Das solltet Ihr auch. Ihr stellt sogar seine
Geduld auf eine harte Probe. War Euer Ausflug wenigstens so erfolgreich, wie er gefährlich war?«
Claire biß sich auf die Lippe. »Ich fürchte nicht.«
»Habt Ihr den Abt gesehen?«
Ein leichtes Zögern. »Nein.«
»Sagt mir die Wahrheit, Claire.«
Die junge Frau schüttelte den Kopf. »Sir, ich habe ihn nicht gesehen. Er war unterwegs, auf der Jagd.«
»Schade«, sagte Sir Daniel. »Warum habt Ihr nicht auf ihn gewartet?« »Ich wagte es nicht, denn Lord Olivers Männer verletzten den Klosterfrieden, um den Magister mit Gewalt wegzuführen. Ich fürchtete, entdeckt zu werden, und floh deshalb.«
»Ja, ja, dieser lästige Magister«, sagte Sir Daniel mit mürrischer
Miene. »Er ist in aller Munde. Wißt Ihr, was man sagt? Daß er in einem Lichtblitz erscheinen kann.« Sir Daniel schüttelte den Kopf. Es war nicht zu erkennen, ob er es glaubte oder nicht. »Er muß ein geschickter Magister des Schießpulvers sein.« Er sprach es schiezen-pulver und sehr langsam aus, als wäre es ein exotisches, ihm unvertrautes Wort. »Habt Ihr den Magister gesehen?« »In der Tat. Ich habe mit ihm gesprochen.« »Wirklich?«
»Da der Abt nicht anwesend war, suchte ich ihn auf. Denn es heißt, der Magister habe sich in jüngster Zeit mit dem Abt angefreundet.« Chris Hughes hatte Mühe, dieser Unterhaltung zu folgen, und er erkannte erst spät, daß sie über den Professor sprachen. Er fragte: »Magister?« »Kennt Ihr den Magister?« fragte ihn Claire. »Edward de Johnes?« Chris machte sofort einen Rückzieher. »Ah ... nein ... nein, ich kenne ihn nicht, und —«
Nun starrte Sir Daniel Chris mit unverhohlener Verwunderung an. Dann wandte er sich an Claire: »Was sagt er?«
»Er sagt, er kennt den Magister nicht.«
Der alte Mann blieb erstaunt. »In welcher Sprache?«
»Eine Art von Englisch, Sir Daniel, mit ein wenig Gälisch darin, wie ich glaube.«
»Kein Gälisch, das ich je gehört habe«, sagte er. Er wandte sich an Chris. »Sprecht Ihr la langue-doc? Loquerisquide latinc?« Er fragte, ob Chris Latein spreche. Chris hatte gewisse akademische Lateinkenntnisse, er konnte es lesen, aber er hatte noch nie versucht, es zu sprechen. So stammelte er: »Non, Senior Danielis, solum perpaululum. Perdoleo.« Nur ein wenig. Tut mir leid. »Per, per... dicendo ille Ciccroni persinrilis est.« Er spreche wie Cicero.
»Perdoleo.« Tut mir leid.
»Dann schweigt Ihr wohl besser.« Der alte Mann wandte sich wieder an Claire. »Was hat der Magister zu Euch gesagt?«
»Er konnte mir nicht helfen.«
»Kennt er das Geheimnis, das wir suchen?«
»Er sagte, er kenne es nicht.«
»Aber der Abt kennt es«, sagte Sir Daniel. »Der Abt muß es kennen. Es war sein Vorgänger, der Bischof von Laon, der bei den letzten
Umbauten von La Roque als Architekt wirkte.«
Claire erwiderte. »Der Magister sagte, daß Laon nicht der Architekt war.«
»Nein?« Sir Daniel runzelte die Stirn. »Und woher weiß der Magister das?«
»Ich glaube, der Abt hat es ihm gesagt. Oder vielleicht hat er es aus den alten Papieren erfahren. Der Magister hat sich erboten, die Pergamente von Sainte-Mere zu sichten und zu ordnen, zum Wohle der Mönche.« »Hat er das?« sagte Sir Daniel nachdenklich. »Ich frage mich, warum.« »Ich hatte nicht die Zeit, ihn zu fragen, bevor Lord Olivers Männer den Klosterfrieden störten.«
»Nun, der Magister wird ja bald hier sein«, sagte Sir Daniel. »Und dann wird Lord Oliver selbst ihm diese Fragen stellen...« Er runzelte die Stirn, ganz offensichtlich bereitete dieser Gedanke ihm Unbehagen.
Der alte Mann drehte sich abrupt zu einem Jungen von neun oder zehn
Jahren um, der hinter ihm stand. »Bring Squire Christopher in meine
Gemächer, damit er sich baden und säubern kann.«
Claire warf dem alten Mann einen scharfen Blick zu. »Onkel,
durchkreuzt meine Pläne nicht.«
»Habe ich das je getan?«
»Ich weiß, daß Ihr es versucht habt.«
»Mein liebes Kind«, sagte er, »meine einzige Sorge gilt Eurer Sicherheit — und Eurer Ehre.«
»Und meine Ehre, Onkel, ist noch nicht verpfändet.« Damit stellte sie sich kühn vor Chris, legte ihm den Arm um den Hals und sah ihm in die Augen. »Ich zähle jede Minute, die Ihr nicht bei mir seid, und ich werde Euch vermissen von ganzem Herzen«, sagte sie sanft und mit zärtlichem Blick. »Kehrt bald zu mir zurück.«
Sie streifte mit ihren Lippen seinen Mund und löste sich dann widerstrebend von ihm, wobei sie die Finger kurz an seinem Hals verweilen ließ. Benommen starrte Chris ihr in die Augen, sah, wie wunderschön —
Sir Daniel räusperte sich und wandte sich dem Jungen zu. »Sei Squire Christopher zu Diensten und hilf ihm bei seinem Bad.« Der Junge verbeugte sich vor Chris. Jeder im Zimmer schwieg, und das war offensichtlich ein Wink, daß er gehen sollte. Er nickte und sagte: »Ich danke Euch.« Verwunderte Blicke kamen diesmal keine; anscheinend hatten sie verstanden, was er gesagt hatte. Sir Daniel gewährte ihm ein frostiges Nicken, und Chris verließ das Zimmer.
Die Pferde polterten über die Zugbrücke. Der Professor starrte geradeaus und ignorierte die Soldaten seiner Eskorte. Die Wachen am Burgtor hoben kaum den Kopf, als die Gruppe in die Burg einritt. Dann war der Professor nicht mehr zu sehen.
Kate, die neben der Zugbrücke stand, fragte: »Was machen wir jetzt? Sollen wir ihm folgen?«
Marek antwortete nicht. Kate drehte sich zu ihm um und sah, daß er gebannt zwei Ritter auf Pferden anstarrte, die auf der Wiese vor der Burg mit Breitschwertern kämpften. Es schien eine Demonstration oder ein Übungskampf zu sein, denn die Ritter waren umringt von einem Kreis junger Männer in Livree - einige in leuchtendem Grün, die anderen in Gelb und Gold, offensichtlich die Wappenfarben der beiden Ritter. Auch hatte sich eine große Menge Zuschauer versammelt, die lachten und den Rittern Beleidigungen oder Aufmunterungen zuriefen. Die Pferde bewegten sich in so engen Kreisen, daß sie sich fast berührten und ihre gepanzerten Reiter immer wieder von Angesicht zu Angesicht aufeinandertrafen. Wieder und wieder krachten die Schwerter in der Morgenluft aufeinander. Marek sah ihnen reglos zu.
Sie tippte ihm auf die Schulter. »Hör mal, Andre, der Professor-«
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