»Dann nehmt das als Antwort«, erwiderte der Junge.
Trotz seiner Jugend sagte er dies mit scharfer Stimme, als wäre er ans
Befehlen gewöhnt. Der Soldat zuckte nur die Achseln und wandte sich um. Der Junge und Chris traten durch das Tor.
Direkt hinter der Mauer befanden sich einige Bauernhäuser und eingezäunte Grundstücke. Die Gegend roch stark nach Wein. Sie gingen vorbei an strohgedeckten Häusern und Pferchen mit grunzenden Schweinen und stiegen dann Treppen hoch zu einer gewundenen, kopfsteingepflasterten Straße mit steinernen Gebäuden zu beiden Seiten. Jetzt waren sie in der eigentlichen Stadt. Die Straße war schmal und sehr belebt und die Gebäude zwei-stöckig, wobei der obere Stock überhing, so daß kein Sonnenlicht auf die Straße fiel. Alle Gebäude hatten im Erdgeschoß geöffnete Läden: ein Schmied, ein Schreiner, der auch Fässer machte, ein Schneider und ein Fleischer. Der Fleischer, in einer bespritzten Ö1 tuchschürze, schlachtete eben ein quiekendes Schwein auf dem Kopfsteinpflaster vor seinem Geschäft, und sie mußten dem fließenden Blut und den Schlingen blassen Gedärms ausweichen.
Es ging sehr laut her in dieser Straße, und der Gestank war für Chris fast unerträglich. Bald kamen sie zu einem gepflasterten Platz mit einem überdachten Markt in der Mitte. Auf ihrem Ausgrabungsgelände in der Gegenwart war diese Stelle nur eine grasbewachsene Fläche. Er blieb stehen, sah sich um und versuchte, das, was er kannte, mit dem zu vergleichen, was er jetzt sah.
Auf der anderen Seite des Platzes stand ein gutgekleidetes junges Mädchen mit einem Korb voller Gemüse, das nun zu dem Jungen geeilt kam und besorgt sagte: »Mein guter Sir, Eure lange Abwesenheit bekümmert Sir Daniel sehr.«
Der Junge schien nicht sehr erfreut, sie zu sehen. Verärgert erwiderte er: »Dann sag meinem Onkel, ich werde ihn zur gegebenen Zeit aufsuchen.«
»Es wird ihm eine große Freude sein«, sagte das Mädchen und verschwand in einer schmalen Gasse.
Der Junge führte Chris in eine andere Richtung. Er sagte nichts über diese Unterhaltung, sondern murmelte nur im Gehen vor sich hin. Sie kamen nun zu einer freien Fläche direkt vor der Burg. Es war ein lebendiger und farbenfroher Platz, mit vielen Rittern, die, ihre flatternden Banner präsentierend, auf ihren Pferden paradierten. »Viele Besucher heute«, sagte der Junge, »wegen des Turniers.« Direkt vor ihnen lag die Zugbrücke, die in die Burg führte. Chris bestaunte die düster aufragenden Mauern, die hohen Türme. Soldaten patrouillierten auf der Mauerkrone und starrten auf die Menge herunter. Der Junge führte ihn ohne Zögern weiter. Chris hörte seine Schritte hohl über das Holz der Zugbrücke klappern. Am Tor standen zwei Wachen. Chris spürte, wie er sich verkrampfte, als er auf sie zuging.
Aber die Wachen beachteten sie kaum. Einer nickte nur abwesend, der andere hatte ihnen den Rücken zugedreht und kratzte sich Schlamm von den Stiefeln.
Chris überraschte diese Gleichgültigkeit. »Warum bewachen sie den Eingang nicht?«
»Warum sollten sie?« sagte der Junge. »Es ist heller Tag. Und wir werden nicht angegriffen.«
Drei Frauen, die Köpfe in weiße Tücher gewickelt, so daß nur die Gesichter zu sehen waren, verließen, mit Körben im Arm, die Burg. Auch ihnen schenkten die Wachen keine Beachtung. Plappernd und lachend gingen die Frauen hinaus - ohne angesprochen zu werden. Chris erkannte, daß er hier mit einem jener historischen Vorurteile konfrontiert war, die so tief verwurzelt waren, daß keiner sie je in Frage stellte. Burgen waren Festungen, und sie hatten immer einen wehrhaften und gesicherten Eingang — mit Burggraben, Zugbrücke und so weiter. Und jeder ging davon aus, daß dieser Eingang immer stark bewacht gewesen war.
Aber, wie der Junge gesagt hatte, warum sollte das so sein? In
Friedenszeiten war eine Burg ein belebtes soziales Zentrum, und
Menschen kamen und gingen, um den Burgherrn zu besuchen oder um
Waren zu liefern. Es gab keinen Grund, das Tor zu bewachen. Vor allem, wie der Junge sagte, bei hellem Tageslicht.
Chris fiel der Vergleich mit modernen Bürogebäuden ein, die nur nachts bewacht wurden; tagsüber war zwar ein Posten anwesend, aber nur, um
Auskunft zu geben. Und vermutlich war es mit diesen Wachen hier ebenso.
Andererseits...
Als er durchs Tor ging, schaute er hoch zu den Spitzen des großen eisernen Fallgitters, das jetzt hochgezogen war. Dieses Gitter konnte in wenigen Augenblicken heruntergelassen werden, das wußte er. Und wenn es heruntergelassen war, gab es keinen Zutritt zur Burg. Und kein Entkommen.
Betreten hatte er die Burg ohne Schwierigkeiten. Aber er war sich nicht so sicher, ob er auch so einfach wieder herauskommen würde.
Sie betraten einen großen, auf allen Seiten von Steinmauern begrenzten Hof. Viele Pferde standen herum, Soldaten mit kastanienbraunen und grauen Überwürfen saßen in kleinen Gruppen zusammen und aßen ihr Mittagsmahl. Oben auf den Mauern erkannte Chris hölzerne Wehrgänge. Direkt vor ihnen lag ein weiteres Gebäude mit drei Stock hohen Steinmauern und Türmen darüber. Es war eine Burg in der Burg. Der Junge führte ihn darauf zu.
Auf einer Seite stand eine Tür offen. Ein einzelner Wachposten stand davor und aß ein Stück Hühnchen. Der Junge sagte: »Zu Lady Claire. Sie wünscht den Irischen zu ihren Diensten.«
»So sei es«, brummte der Posten desinteressiert, und sie gingen hinein. Direkt vor sich sah Chris einen Bogengang, der zum Festsaal führte, wo Gruppen von Männern und Frauen beisammenstanden und redeten. Alle schienen festlich gekleidet, ihre Stimmen hallten von den Steinmauern wider.
Aber der Junge ließ Chris nicht viel Zeit zum Schauen. Er führte ihn eine schmale Wendeltreppe hoch ins zweite Geschoß und dann einen Steinkorridor entlang zu einer Zimmerflucht. Drei ganz in Weiß gekleidete Mägde kamen sofort auf den Jun-

gen zugestürmt und umarmten ihn. Sie schienen sehr erleichtert. »Bei der Gnade Gottes, Mylady, Ihr seid zurück!« Chris fragte: »Mylady?«
Noch während er dies sagte, flog die schwarze Kappe davon, und goldene Haare flössen über ihre Schultern. Sie machte eine leichte Verbeugung, aus der ein Knicks wurde. »Es tut mir aufrichtig leid, und ich bitte Euch von Herzen, mir diesen Trug zu verzeihen.« »Wer seid Ihr?« fragte Chris verblüfft. »Man nennt mich Claire.«
Sie erhob sich und sah ihm direkt in die Augen. Er bemerkte, daß sie älter war, als er gedacht hatte, vielleicht zwei- oder dreiundzwanzig. Und sehr schön.
Chris gaffte nur und schwieg. Er hatte keine Ahnung, was er sagen oder was er tun sollte. Er war verlegen und kam sich töricht vor. In diesem Schweigen trat eine der Mägde vor, knickste und sagte: »Wenn es Euch beliebt, dies ist die Lady Claire of Eltham, Witwe des jüngst verschiedenen Sir Geoffrey of Eltham und Erbin großer Ländereien in Guyenne und Middlessex. Sir Geoffrey starb an den Wunden, die er in Poitiers erlitt, und jetzt ist Sir Oliver — der Herr dieser Burg — Myladys Vormund. Sir Oliver meint, sie müsse wieder heiraten, und hat Sir Guy de Malegant erwählt, einen Edelmann von großem Ansehen in dieser Gegend. Aber Mylady verweigert sich dieser Verbindung.«
Claire drehte sich um und warf dem Mädchen einen warnenden Blick zu. Doch das Mädchen achtete nicht darauf und plapperte weiter. »Mylady sagt vor aller Welt, daß Sir Guy nicht die Mittel hat, ihre Ländereien in Frankreich und England zu verteidigen. Aber Sir Oliver erwartet ein Brautgeld aus dieser Verbindung, und Guy hat -« »Elaine.«
»Mylady«, sagte das Mädchen und trat zurück. Sie gesellte sich wieder zu den anderen Mägden, die in einer Ecke flüsterten und sie offensichtlich tadelten.
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