Während sie sich unterhielten, waren der andere Wissenschaftler und sein Assistent mehrmals hereingekommen und wieder gegangen, was eine ständige Störung bedeutete.
Das Labor war mit abgewetzten Holztischen ausgestattet, die dicht aneinandergerückt waren, um möglichst viel Platz zu gewinnen. Über den Tisch hingen altmodische Gas- und Elektroan-schlüsse, die recht wacklig aussahen und mit vielen Zwischensteckern und Steckdosen bestimmt nicht den Sicherheitsnormen entsprachen. An den Wänden standen mit Büchern, Akten und alten Gerätschaften vollgestopfte Regale aus rohem Holz, und dazwischen entdeckte Celia ein paar altmodische Destillierkolben, wie sie sie von ihrem eigenen Chemiestudium vor neunzehn Jahren kannte. Ein Teil des einen Arbeitstisches diente als Schreibtisch. Davor stand ein ungepolsterter Windsor-Stuhl, und überall zwischen dem Wust von Papieren waren schmutzige Gläser und Tassen zu sehen.
Auf einem anderen Tisch standen mehrere Drahtkäfige, in denen sich ungefähr zwanzig Ratten befanden - immer zwei in einem Käfig und in deutlich unterschiedlicher Verfassung.
Der Fußboden des Labors war schon lange nicht mehr geputzt worden. Genausowenig wie die schmalen Fenster, die ganz oben in die Wand eingelassen waren und einen Ausblick auf die Räder und Unterböden der Autos gewährten, die draußen parkten. Es war deprimierend.
»Egal, wie es aussieht«, sagte Sam zu Celia, »vergessen Sie nicht, daß hier schon Wissenschaftsgeschichte gemacht wurde. In diesen Räumen haben Nobelpreisträger gearbeitet; sie sind durch diese Flure hier gegangen.«
»Stimmt genau«, sagte Martin Peat-Smith fröhlich; er war gerade zurückgekehrt und hatte die letzte Bemerkung mitbekommen. »Fred Sanger war einer von ihnen; er hat die Struktur des Insulinmoleküls in einem Labor entdeckt, das direkt über uns liegt.« Er sah, wie Celia die alten Geräte anstarrte. »In Universitätslabors wird nichts weggeworfen, Mrs. Jordan, weil man nie wissen kann, ob man es nicht noch mal braucht. Wir müssen oft improvisieren und bauen uns einen großen Teil unserer Geräte selbst.«
»Das ist an amerikanischen Universitäten genauso«, bemerkte Sam.
»Trotzdem«, wandte Peat-Smith ein, »es muß ein ziemlicher Kontrast zu den Labors sein, an die Sie beide gewöhnt sind.«
Celia mußte an die geräumigen, makellosen und reich ausgestatteten Labors bei Felding-Roth in New Jersey denken und erwiderte: »Ehrlich gesagt, ja.«
Peat-Smith hatte zwei Schemel mitgebracht. Er bot Celia den Windsor-Stuhl an, und er und Sam setzten sich auf die Schemel.
»Fairerweise sollte ich Ihnen sagen«, erklärte er dann, »daß das, was ich hier versuche, nicht nur wissenchaftliche Probleme aufwirft, sondern auch enorm schwierige Techniken. Wir müssen einen Weg finden, Informationen vom Kern einer Gehirnzelle in den Teil der Zelle zu übertragen, der Proteine und Pep-tide erzeugt . . .«
Er erwärmte sich an seinen Ausführungen und verfiel in einen wissenschaftlichen Jargon. ». . . wenn man eine Mischung der m-RNS von jungen und alten Ratten in ein zellfreies System gibt . . . wenn man die RNS-Matrize Proteine produzieren läßt . . . ein langer Strang m-RNS kann mehrere Proteine kodieren . . . dann werden die Proteine durch Elektrophorese getrennt . . . eine mögliche Technik könnte eine reverse Transkrip-tase nutzen . . . Wenn sich dann RNS und DNS nicht verbinden, bedeutet das, daß die alten Ratten diese genetische Fähigkeit verloren haben ... So werden wir lernen, welche Peptide sich verändern . . . und am Ende werde ich nur noch nach einem einzigen Peptid suchen . . .«
Die Ausführungen dauerten länger als eine Stunde und wurden nur gelegentlich durch scharfsinnige, ins Detail gehende Fragen von Sam unterbrochen, die Celia beeindruckten. Obwohl Sam keine wissenschaftliche Ausbildung besaß, hatte er sich in den Jahren bei Felding-Roth viel Fachwissen angeeignet.
Peat-Smith riß sie beide mit seiner Begeisterung mit. Und je länger er sprach - verständlich, präzise und diszipliniert -, desto mehr stieg Sams und Celias Achtung vor ihm.
Bevor er zum Schluß kam, deutete der Wissenschaftler auf die Ratten in den Käfigen. »Das sind nur ein paar. Wir haben viele hundert weitere in unseren Tierställen.« Er legte die Hand auf einen Käfig, und eine große Ratte, die geschlafen hatte, begann sich zu rühren. »Dieser Bursche hier ist zweieinhalb Jahre alt; das entspricht beim Menschen einem Alter von siebzig Jahren. Morgen werden wir ihn opfern und die chemische Zusammensetzung seines Gehirns mit der einer Ratte vergleichen, die erst ein paar Tage alt ist. Aber um wirkliche Antworten zu finden, werden wir noch eine Menge Ratten benötigen, eine Menge Analysen durchführen müssen und eine Menge Zeit brauchen.«
Sam nickte verständnisvoll. »Wir kennen diesen Zeitfaktor aus eigener Erfahrung. Wie würden Sie - noch einmal kurz zusammengefaßt - Ihr langfristiges Ziel formulieren, Doktor?«
Peat-Smith überlegte, bevor er antwortete. »Durch anhaltende genetische Forschung ein Gehirnpeptid zu entdecken, das das Gedächtnis bei jüngeren Menschen verstärkt, das aber, wenn die Leute älter werden, im menschlichen Körper nicht mehr erzeugt wird. Wenn wir ein solches Peptid gefunden und isoliert haben, werden wir versuchen, es mit Hilfe genetischer Techniken zu produzieren. Dann können wir es bei Menschen jeder Altersstufe anwenden, um den Gedächtnisschwund zu reduzieren -und vielleicht sogar den mentalen Alterungsprozeß insgesamt zu stoppen.«
Die kurze Zusammenfassung wurde durch und durch überzeugend und ohne jede Überheblichkeit ruhig vorgetragen, und Celia hatte trotz der trostlosen Umgebung das Gefühl, etwas zu erleben, das sie nie vergessen würde, einen Augenblick in ihrem Leben, in dem Geschichte gemacht wurde.
Schließlich sagte Sam: »Dr. Peat-Smith, Sie bekommen die Unterstützung, und zwar in der Höhe, die Sie uns jetzt nennen.«
Peat-Smith schien erstaunt. »Sie meinen ... so einfach ist das . . .?«
Jetzt war es Sam, der lächelte. »Als Präsident von Felding-Roth Pharmaceuticals besitze ich eine gewisse Entscheidungsfreiheit. Und ab und zu macht es mir Spaß, sie zu nutzen. Die einzige Bedingung ist die bei solchen Arrangements übliche: Wir würden gern über Ihre Fortschritte informiert werden und, falls Sie eine Entdeckung machen, als erste davon erfahren.«
Peat-Smith nickte. »Das versteht sich von selbst.« Er war noch immer ganz benommen.
Sam streckte die Hand aus, die der junge Wissenschaftler ergriff. »Viel Glück!«
Etwa eine halbe Stunde später hatte Martin - sie redeten sich bereits mit Vornamen an - sie eingeladen, mit nach oben zu kommen, wo in der Vorhalle auf Teewagen Tee und Plätzchen bereitstanden. Das Trio balancierte seine Tassen und Untertassen bis zu einem »Teeraum« der Fakultät, der, wie Martin erklärte, ein gesellschaftlicher Treffpunkt für die hier tätigen Wissenschaftler und ihre Gäste war.
Der Teeraum, so schmucklos und unaufwendig wie das ganze Gebäude, war mit langen Tischen und Holzstühlen ausgestattet und völlig überfüllt. Hier saßen Wissenschaftler beiderlei Geschlechts und jeder Altersgruppe, aber die Gesprächsfetzen, die Celia und Sam aufschnappten, waren entschieden unwissenschaftlich. Bei dem einen Gespräch ging es um Parkplätze - ein älteres Fakultätsmitglied erregte sich darüber, daß ein jüngerer bevorzugt worden war und ihm seinen angestammten Platz weggenommen hatte. Neben ihm berichtete ein bärtiger, weißbekittelter Mann begeistert von einem »sensationellen« Kauf, den er bei einem Weinhändler in Cambridge getätigt hatte; er empfahl den Meursault, den er auf Lager hatte. Eine andere Gruppe diskutierte einen neuen Film, der gerade im Kino lief - »Der Pate« mit Marlon Brando und Al Pacino. Nach einigen komplizierten Manövern und dem Austausch von Plätzen gelang es Martin Peat-Smith, für seine Gäste in einer Ecke Platz zu finden.
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