Sie zögerte einen Moment, dann schüttelte sie den Kopf. »Nein.« »Da ist nichts weiter dabei. Sie müssen sich lediglich entspannen und auf meine Stimme achten. Sie brauchen sich keinerlei Sorgen zu machen. Niemand wird Ihnen etwas zuleide tun. Sie spüren, wie Ihre Muskeln sich lösen. Gut so. Seien Sie ganz entspannt und spüren Sie, wie Ihre Lider schwer werden. Sie haben allerhand durchgemacht. Sie sind müde, sehr müde. Sie möchten nur noch schlafen. Schließen Sie einfach die Augen und entspannen Sie sich. Sie werden müde ... sehr müde ...«
Fünf Minuten später war sie unter Hypnose. Dr. Salem trat neben Ashley. »Ashley, wissen Sie, wo Sie sich befinden?«
»Ja. Ich bin im Gefängnis.« Ihre Stimme klang dumpf, als käme sie aus weiter Ferne.
»Wissen Sie, weshalb Sie im Gefängnis sind?«
»Weil man meint, daß ich etwas Schlimmes getan habe.«
»Und trifft das zu? Haben Sie etwas Schlimmes getan?«
»Nein.«
»Ashley, haben Sie je einen Menschen getötet?«
»Nein.«
David schaute Dr. Salem verwundert an. Unter Hypnose sollte man doch angeblich die Wahrheit sagen.
»Haben Sie eine Ahnung, wer diese Morde begangen haben könnte?«
Plötzlich verzerrte sich Ashleys Gesicht, und ihr Atem ging schneller, kurz und gepreßt. Staunend verfolgten die beiden Männer die Verwandlung. Die Lippen strafften sich, und ihre Mimik schien sich zu verändern. Sie setzte sich kerzengerade auf und wirkte mit einemmal viel lebhafter als zuvor. Sie schlug die Augen auf und sah sich mit funkelndem Blick um. Die Veränderung war unglaublich. Dann begann sie mit kehliger Stimme und unverkennbar britischem Akzent zu singen.
»Will ich auf mein Boden gehen, will mein Hölzlein holen, steht ein bucklicht Männlein da, hat mir’s halb gestohlen.«
David hörte verdutzt zu. Wen will sie denn damit täuschen? Sie gibt vor, jemand anders zu sein.
»Ich möchte Ihnen noch ein paar Fragen stellen, Ashley.«
Sie warf den Kopf zurück. »Ich bin nicht Ashley«, erwiderte sie mit britischem Akzent.
Dr. Salem warf David einen kurzen Blick zu und wandte sich dann wieder an Ashley. »Und wer sind Sie, wenn Sie nicht Ashley sind?«
»Ich bin Toni. Toni Prescott.«
Und Ashley zieht das völlig ungerührt durch, dachte David. Wie lange will sie denn diese dämliche Posse noch spielen? Das ist doch reine Zeitverschwendung.
»Ashley«, sagte Dr. Salem.
»Toni.«
Sie läßt sich nicht davon abbringen, dachte David.
»Na schön, Toni. Ich möchte, daß -«
»Ich will dir mal sagen, was ich möchte. Ich möchte aus diesem verdammten Loch raus. Könnt ihr uns da rausholen?«
»Kommt ganz darauf an«, erwiderte Dr. Salem. »Was wissen Sie über -?«
»Die Morde, wegen denen die kleine Zimtzicke hier einsitzt? Ich kann Ihnen Sachen erzählen, die -«
Plötzlich veränderte sich Ashleys Miene erneut. Sie schien in sich zusammenzusinken, und ihr Gesicht wurde weicher und machte erneut eine geradezu unglaubliche Wandlung durch, so als ob eine völlig andere Person vor ihnen säße.
»Toni, sag nichts mehr, per piacere «, sagte sie mit sanfter Stimme und leichtem italienischem Akzent.
David betrachtete sie verdutzt.
»Toni?« Dr. Salem trat ein Stück näher.
Wieder ertönte die sanfte Stimme. »Entschuldigen Sie die Unterbrechung, Dr. Salem.«
»Wer sind Sie?« fragte Dr. Salem.
»Ich bin Alette. Alette Peters.«
Mein Gott, das ist nicht gespielt, dachte David. Es ist echt. Er wandte sich an Dr. Salem.
Der sagte leise: »Das sind Alter egos.«
David starrte ihn verständnislos an. »Was sind das?«
»Ich erkläre es Ihnen später.«
Dr. Salem wandte sich wieder an Ashley. »Ashley - ich meine, Alette ... Wie - zu wievielt seid ihr?«
»Außer Ashley gibt es nur Toni und mich«, antwortete Alette.
»Sie sprechen mit italienischem Akzent.«
»Ja. Ich bin in Rom geboren. Waren Sie schon mal in Rom?«
»Nein, ich war noch nie in Rom.«
Ich glaube, ich höre nicht recht, dachte David.
»E molto bello.«
»Bestimmt. Kennen Sie Toni?«
»Si, naturalmente.«
»Sie spricht mit britischem Akzent.«
»Toni ist in London geboren.«
»Richtig. Alette, ich möchte Sie zu diesen Morden befragen. Haben Sie eine Ahnung, wer -?«
Und wieder erlebten David und Dr. Salem, wie sich Ashley vor ihren Augen veränderte. Ohne daß sie ein Wort sagte, wußten sie, daß sie es mit Toni zu tun hatten.
»Mit der verplemperst du bloß deine Zeit, mein Lieber.«
Wieder der britische Akzent.
»Alette weiß gar nichts. Mit mir mußt du reden.«
»Na schön, Toni. Ich rede mit Ihnen. Ich möchte Ihnen ein paar Fragen stellen.«
»Das kann ich mir denken, aber ich bin jetzt müde.« Sie gähnte. »Diese verklemmte Zicke hat uns die ganze Nacht über wach gehalten. Ich brauche dringend Schlaf.« »Jetzt nicht, Toni, hören Sie mir zu. Sie müssen uns dabei helfen -«
Ihr Gesicht wurde mit einemmal hart. »Wieso sollte ich euch helfen? Was hat denn die Zimtzicke für Alette oder mich getan? Gar nichts. Sie hindert uns nur daran, daß wir unseren Spaß haben. Tja, ich hab’s jedenfalls satt, und Sie habe ich auch satt. Habt ihr gehört?« Sie schrie jetzt aus vollem Halse, mit verzerrtem Gesicht.
»Ich werde sie wieder zurückholen«, sagte Dr. Salem.
David schwitzte. »Ja.«
Dr. Salem beugte sich zu Ashley. »Ashley ... Ashley ... Alles ist in bester Ordnung. Schließen Sie jetzt die Augen. Ihre Lider sind schwer, sehr schwer. Sie sind völlig entspannt. Ashley, Sie sind ausgeglichen und entspannt. Wenn ich bis fünf zähle, werden Sie aufwachen und sich völlig entspannt vorkommen. Eins .« Er warf David einen Bick zu und wandte sich dann wieder an Ashley. »Zwei ...«
Ashley regte sich. Sie sahen, wie sich ihre Miene erneut veränderte.
»Drei .«
Ihr Gesicht wurde weicher.
»Vier .«
Sie spürten, daß sie allmählich wieder zu sich kam, und ihnen war etwas unheimlich zumute.
»Fünf.«
Ashley schlug die Augen auf. Sie blickte sich um. »Ich komme mir vor als - habe ich geschlafen?«
David stand da und starrte sie fassungslos an.
»Ja«, sagte Dr. Salem.
Ashley wandte sich an David. »Habe ich irgend etwas gesagt? Ich meine - konnte ich Ihnen weiterhelfen?«
Mein Gott, dachte David. Sie weiß es nicht! Sie weiß es wirklich nicht! »Sie waren ganz hervorragend, Ashley. Jetzt möchte ich Dr. Salem unter vier Augen sprechen.«
»Von mir aus.«
»Wir sprechen uns später.«
Die Männer standen da und blickten Ashley nach, als sie von der Aufseherin weggeführt wurde.
David ließ sich auf einen Stuhl sinken. »Was - was zum Teufel war da los?«
Dr. Salem holte tief Luft. »In all den Jahren, die ich nun schon praktiziere, habe ich noch nie einen Fall erlebt, der eindeutiger war.«
»Was für einen Fall? Worum geht es?«
»Haben Sie schon mal etwas von multipler Persönlichkeitsstörung gehört?«
»Was ist das?«
»Ein Krankheitsbild, bei dem sich die Psyche eines Menschen in mehrere völlig unterschiedliche Persönlichkeiten aufspaltet. Man bezeichnet es auch als dissoziative Identitätsstörung. In der psychiatrischen Literatur wird bereits seit über zweihundert Jahren darauf verwiesen. Es beginnt für gewöhnlich mit einen Kindheitstrauma. Der oder die Betroffene verdrängt dieses Trauma, indem er sich eine andere Identität zulegt. Mitunter kann es vorkommen, daß jemand ein Dutzend verschiedene Persönlichkeiten besitzt.«
»Und die wissen voneinander?«
»Manchmal ja. Manchmal auch nicht. Toni und Alette kennen einander. Ashley hingegen ist sich offensichtlich nicht bewußt, daß sie da sind. Die betroffene Person kreiert diese anderen Persönlichkeiten, weil sie den Schmerz, der mit dem Trauma verbunden ist, nicht aushalten kann. Es ist eine Art Flucht. Und bei jedem weiteren Schock kann eine neue Persönlichkeit entstehen. Laut der psychiatrischen Literatur, die über dieses Thema vorliegt, können diese Persönlichkeiten völlig verschieden voneinander sein. Manche sind dumm, andere überaus intelligent. Sie können verschiedene Sprachen sprechen. Sie haben unterschiedliche Geschmäcker und Eigenarten.«
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