»Das glaube ich nicht, junger Mann.«
»Ich weiß nicht, an wen ich mich sonst wenden soll, Dr. Patterson. Ich - ich flehe Sie an.«
Wieder herrschte eine Zeitlang Stille.
»Wie viele Semester Jura haben Sie schon hinter sich?« »Noch gar keins. Ich habe gerade angefangen.«
»Aber Sie gedenken Ihre Schuld zu begleichen?«
»Ich schwöre es.«
»Raus mit Ihnen.«
Als David nach Hause kam, war er darauf gefaßt, daß jeden Moment die Polizei an der Tür klingeln und ihn wegen Freiheitsberaubung und Nötigung festnehmen würde. Doch nichts dergleichen geschah. Aber er fragte sich, ob Dr. Patterson sich in der Klinik sehen lassen würde.
Als David am nächsten Morgen auf die Intensivstation kam, war Dr. Patterson bereits da und untersuchte seine Mutter. David sah ihm beklommen und bangen Mutes zu.
Dann drehte sich Dr. Patterson zu den anderen Ärzten um, die um ihn herumstanden. »Lassen Sie sie in den OP bringen, A1. Sofort!«
»Wird sie -?« preßte David mit belegter Stimme heraus, als man seine Mutter auf eine Rollbahre bettete.
»Wir werden sehen.«
Sechs Stunden später kam Dr. Patterson in das Wartezimmer, in dem David ausgeharrt hatte.
David sprang auf. »Wie -?« Er hatte Angst davor, die Frage auszusprechen.
»Sie wird wieder genesen. Ihre Mutter hat eine robuste Natur.«
David war zutiefst erleichtert. Er sprach ein stilles Stoßgebet. Danke, lieber Gott.
Dr. Patterson musterte ihn. »Ich weiß nicht mal, wie Sie mit Vornamen heißen.«
»David, Sir.«
»Nun ja, mein lieber David-Sir, wissen Sie, weshalb ich mich dafür entschieden habe?«
»Nein .«
»Aus zweierlei Gründen. Erstens, weil der Zustand, in dem sich Ihre Mutter befand, eine Herausforderung darstellte. Und ich mag Herausforderungen. Der zweite Grund waren Sie.«
»Ich - das verstehe ich nicht.«
»Sie haben etwas getan, was ich in jüngeren Jahren vielleicht auch gemacht hätte. Und Sie haben sich etwas einfallen lassen. Nun« - er schlug einen anderen Tonfall an -, »Sie haben gesagt, Sie würden Ihre Schuld begleichen.«
David rutschte das Herz in die Hose. »Ja, Sir. Eines Tages, wenn -«
»Warum nicht gleich?«
David schluckte. »Gleich?«
»Ich mache Ihnen ein Angebot. Können Sie Auto fahren?«
»Ja, Sir .«
»Na schön. Ich habe es satt, diesen großen Wagen ständig selbst zu fahren. Bringen Sie mich ein Jahr lang täglich zur Arbeit und holen Sie mich jeden Abend um sechs oder sieben wieder ab. Danach ist von meiner Seite aus das Honorar beglichen .«
So lautete die Abmachung. David fuhr Dr. Patterson jeden Tag zu seiner Praxis und brachte ihn abends wieder nach Hause, und Dr. Patterson rettete dafür das Leben von Davids Mutter.
Im Laufe dieses Jahres bekam David immer mehr Hochachtung vor Dr. Patterson. Hier und da neigte er zwar zu Wutausbrüchen, aber er war der selbstloseste Mensch, den er je kennengelernt hatte. Er hatte ein ausgeprägtes soziales Gewissen und opferte einen Gutteil seiner Freizeit für ehrenamtliche Tätigkeiten in sogenannten freien Kliniken. Sie führten lange Gespräche miteinander, wenn David ihn zur Praxis, zur Klinik oder wieder nach Hause fuhr.
»Worauf wollen Sie sich spezialisieren, David?«
»Auf Strafrecht.«
»Warum? Damit die Gauner, die sich von Ihnen vertreten lassen, wieder auf freien Fuß kommen?«
»Nein, Sir. Aber heutzutage kommen auch allerhand anständige Menschen mit dem Gesetz in Konflikt. Denen möchte ich beistehen.«
Als das Pflichtjahr abgegolten war, schüttelte Dr. Patterson David die Hand und sagte: »Wir sind quitt .«
Seither hatte David Dr. Patterson nicht mehr gesehen, aber er war immer wieder auf seinen Namen gestoßen.
»Dr. Patterson gründet kostenlose Klinik für aidskranke Kinder .«
»Dr. Steve Patterson weiht die Patterson-Klinik in Kenia ein .«
»Dr. Patterson legte Grundstein für das PattersonObdachlosenasyl ...«
Er war allgegenwärtig, scheute offenbar weder Kosten noch Mühen, wenn es um die Notleidenden und Bedürftigen ging.
Sandras Stimme brachte David wieder zur Besinnung. »David. Hast du irgendwas?«
Er wandte sich vom Fernseher ab. »Steven Pattersons Tochter wurde soeben wegen dieser Serienmorde festgenommen.«
»Oh, wie schrecklich!« rief Sandra. »Das tut mir ja so leid, Liebster.«
»Er hat meiner Mutter das Leben gerettet. Sieben wunderbare Jahre, die sie in vollen Zügen genossen hat. Jemand wie er hat das einfach nicht verdient. Er ist der großzügigste Mensch, den ich je kennengelernt habe. Das ist nicht gerecht. Wie kann ein Mann wie er so ein Ungeheuer zur Tochter haben?«
Er schaute auf seine Uhr. »Verdammt! Ich komme zu spät.«
»Du hast noch nicht mal gefrühstückt.«
»Mir hat’s den Appetit verschlagen.« Er warf einen Blick zum Fernsehapparat. »Deswegen - und weil heute der Tag der Entscheidung ist .«
»Du wirst es schaffen. Daran gibt es nichts zu zweifeln.«
»Zweifel bleiben immer, mein Schatz. Jedes Jahr guckt irgendwer, der die Beteiligung bereits in der Tasche zu haben glaubte, am Ende in die Röhre.«
Sie umarmte ihn. »Die können doch von Glück sagen, daß sie dich haben.«
Er beugte sich vor und küßte sie. »Danke, mein Schatz. Ich wüßte nicht, was ich ohne dich machen sollte.«
»Mußt du auch nicht. Ruf mich an, sobald du Bescheid weißt, ja, David?«
»Selbstverständlich. Wir gehen aus und feiern.« Und er erinnerte sich wieder, wie er vor vielen Jahren zu jemand anderem das gleiche gesagt hatte. Wir gehen aus und feiern.
Und dann hatte er sie umgebracht.
Die Kanzlei Kincaid, Turner, Rose & Ripley nahm insgesamt drei Stockwerke des TransAmerica Building im Zentrum von San Francisco ein. Als David Singer zur Arbeit kam, empfingen ihn alle mit einem wissenden Lächeln. Er hatte den Eindruck, daß selbst das »Guten Morgen«, das man ihm zurief, einen anderen Klang hatte. Offenbar wußte man, daß man es mit einem zukünftigen Gesellschafter der Kanzlei zu tun hatte.
Auf dem Weg zu seinem kleinen Büro kam David an dem frisch renovierten Raum vorbei, der für einen der auserkorenen Gesellschafter bestimmt war. Er konnte der Versuchung nicht widerstehen und warf einen kurzen Blick hinein. Es war ein großes, schmuckes Büro mit einem privaten Waschraum und einem Panoramafenster, das einen herrlichen Ausblick auf die Bucht von San Francisco bot. Er stand einen Moment lang da und ließ alles auf sich einwirken.
Als David in sein Büro kam, begrüßte ihn Holly, seine Sekretärin, mit einem munteren »Guten Morgen, Mr. Singer«. Sie sprach mit einem leichtem Singsang.
»Guten Morgen, Holly.«
»Ich habe eine Nachricht für Sie.«
»Ja?«
»Mr. Kincaid möchte Sie um fünf Uhr in seinem Büro sprechen.« Sie lächelte ihn strahlend an.
Dann ist es also wirklich soweit! »Großartig!«
Sie trat einen Schritt näher. »Und ich glaube, ich weiß noch mehr. Ich war nämlich heute morgen mit Dorothy, Mr. Kin-caids Sekretärin, Kaffee trinken. Sie sagt, daß Sie ganz oben auf der Liste stehen.«
David grinste. »Danke, Holly.«
»Möchten Sie Kaffee?«
»Aber gern.«
»Heiß und stark. Kommt sofort.«
David ging zu seinem Schreibtisch, auf dem sich allerlei Papierkram stapelte - Schriftsätze, Vertragsentwürfe und diverse Aktenordner.
Heute war der entscheidende Tag. Endlich. Mr. Kincaid möchte Sie um fünf Uhr in seinem Büro sprechen. Sie stehen ganz oben auf der Liste.
Am liebsten hätte er Sandra auf der Stelle angerufen und ihr die gute Nachricht mitgeteilt.
Doch irgend etwas hielt ihn davon ab. Ich warte lieber, bis es soweit ist, dachte er.
David vertiefte sich zwei Stunden lang in die Papiere, die auf seinem Schreibtisch lagen. Um elf Uhr kam Holly herein. »Ein Dr. Patterson möchte Sie sprechen. Er hat keinen Ter-« Er blickte verwundert auf. »Dr. Patterson ist hier im Haus?«
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