Eine Wärterin weckte sie auf. »Besuch für Sie.«
Sie wurde in einen Besuchsraum gebracht, wo Shane Miller bereits auf sie wartete.
Er stand auf, als Ashley hereingeführt wurde. »Ashley ...« Sie hatte mit einemmal Herzklopfen. »O Shane!« Noch nie hatte sie sich so über einen Besuch gefreut. Irgendwie hatte sie gewußt, daß er vorbeikommen und sie herausholen würde, daß er dafür sorgen würde, daß man sie freiließ.
»Shane, ich bin ja so froh, daß du hier bist!«
»Ich freue mich auch«, erwiderte er verlegen. Er blickte sich in dem Besuchszimmer um. »Allerdings nicht unbedingt unter diesen Umständen. Ich - ich wollte es zunächst nicht glauben, als ich es erfahren habe. Wie konnte das passieren? Wieso hast du das getan, Ashley?«
Ihr Gesicht verlor jegliche Farbe. »Wieso ich das -? Meinst du etwa, daß ich -?«
»Ist ja egal«, sagte Shane rasch. »Sprechen wir nicht mehr davon. Darüber solltest du nur mit deinem Anwalt reden.«
Ashley stand da und starrte ihn an. Er hielt sie offenbar für schuldig. »Wieso bist du gekommen?«
»Nun ja, ich - mir ist dabei gar nicht wohl zumute, aber unter
- diesen Umständen, äh - sieht sich die Firma leider gezwungen, dich zu entlassen. Ich meine, wir - wir können es uns einfach nicht leisten, in so eine Sache hineingezogen zu werden. Schlimm genug, daß in den Zeitungen erwähnt wurde, daß du bei Global beschäftigt bist. Das verstehst du doch, nicht? Es ist nicht persönlich gemeint.«
Auf der Fahrt nach San Jose überlegte sich David Singer, wie er das Gespräch mit Ashley Patterson angehen sollte. Er wollte zusehen, daß er soviel aus ihr herausholen konnte wie nur möglich, und alles, was er erfuhr, an Jesse Quiller weiterleiten, einen der besten Strafverteidiger im ganzen Land. Wenn jemand Ashley helfen konnte, dann war es Jesse.
David wurde in Sheriff Dowlings Büro geführt. Er reichte dem Sheriff seine Karte. »Ich bin Rechtsanwalt. Ich möchte mit Ashley Patterson sprechen und -«
»Sie erwartet Sie bereits.«
David schaute ihn überrascht an. »Tatsächlich?«
»Ja.« Sheriff Dowling wandte sich an einen Deputy und nickte ihm zu.
»Hier lang«, sagte der Deputy zu David.
Er führte David in den Besuchsraum, und ein paar Minuten später wurde Ashley aus ihrer Zelle gebracht.
David war Ashley Patterson vor vielen Jahren einmal begegnet, als er noch Student gewesen war und ihren Vater in der Gegend herumchauffiert hatte. Er hatte das Mädchen seinerzeit intelligent und attraktiv gefunden. Jetzt hatte er eine schöne junge Frau mit angsterfüllten Augen vor sich. Sie setzte sich ihm gegenüber hin.
»Hallo, Ashley. Ich bin David Singer.«
»Mein Vater hat mir schon gesagt, daß Sie vorbeikommen«, erwiderte sie mit bebender Stimme.
»Ich möchte Ihnen nur ein paar Fragen stellen.«
Sie nickte.
»Zuvor möchte ich Sie darauf hinweisen, daß alles, was Sie mir sagen, streng vertraulich behandelt wird. Das geht nur uns beide etwas an. Aber Sie müssen mir die Wahrheit sagen.« Er zögerte. So weit hatte er eigentlich gar nicht gehen wollen, aber andererseits wollte er Jesse Quiller möglichst viel Stoff liefern. Immerhin mußte er ihn erst noch dazu überreden, daß er den Fall übernahm. »Haben Sie diese Männer getötet?«
»Nein!« versetzte Ashley im Brustton der Überzeugung. »Ich bin unschuldig!«
David zog ein Blatt Papier aus der Tasche und warf einen Blick darauf. »Sind Sie mal mit einem gewissen Jim Cleary gegangen?«
»Ja. Wir - wir wollten heiraten. Wieso, um alles in der Welt, hätte ich Jim denn etwas zuleide tun sollen? Ich habe ihn geliebt.«
David musterte Ashley einen Moment lang und schaute dann wieder auf seine Notizen. »Was ist mit Dennis Tibble?«
»Dennis hat in der gleichen Firma gearbeitet wie ich. Ich war kurz vor seinem Tod bei ihm, aber ich habe nichts damit zu tun. Ich war in Chicago, als er ermordet wurde.«
David achtete auf ihre Mimik.
»Sie müssen mir glauben. Ich - ich hatte nicht den geringsten Grund, ihn umzubringen.«
»Na schön«, sagte David. Er warf einen zweiten Blick auf seine Unterlagen. »Welche Beziehung hatten Sie zu Jean Claude Parent?«
»Das hat mich die Polizei auch schon gefragt. Ich habe den Namen noch nie gehört. Wieso sollte ich jemanden umbringen, den ich nicht einmal kenne?« Sie schaute David mit flehendem Blick an. »Begreifen Sie denn nicht? Es handelt sich um ein Versehen. Ich habe mit diesen Morden nichts zu tun.« Sie fing an zu weinen. »Ich habe niemanden umgebracht.«
»Und Richard Melton?«
»Den kenne ich auch nicht.«
David wartete, bis Ashley sich wieder gefaßt hatte. »Was ist mit Deputy Blake?«
Ashley schüttelte den Kopf. »Deputy Blake blieb über Nacht bei mir, weil er auf mich aufpassen wollte. Jemand hatte mir nämlich nachgestellt und mich bedroht. Ich bin in mein Schlafzimmer gegangen, und er hat auf der Couch im Wohnzimmer geschlafen. Am - am nächsten Morgen fand man seine Leiche in der Gasse hinter dem Haus.« Ihr Mund zuckte. »Wieso hätte ich ihn denn umbringen sollen? Er wollte mir doch helfen!«
David warf Ashley einen verdutzten Blick zu. Irgendwas stimmt hier nicht, dachte er. Entweder sagt sie die Wahrheit, oder sie ist eine verteufelt gute Schauspielerin. Er stand auf. »Bin gleich wieder da. Ich muß kurz mit dem Sheriff sprechen.«
Zwei Minuten später war er im Büro des Sheriffs.
»Na, haben Sie mit ihr gesprochen?« fragte Sheriff Dowling.
»Ja. Und ich glaube, daß Sie einer fixen Idee aufgesessen sind, Sheriff.«
»Was soll das heißen, Herr Rechtsanwalt?«
»Daß Sie möglicherweise zu voreilig waren, weil Sie unbedingt jemanden festnehmen wollten. Ashley Patterson hat zwei der Männer, deren Tod Sie ihr zur Last legen, überhaupt nicht gekannt.«
Der Sheriff rang sich ein knappes Lächeln ab. »Sie sind also auch auf sie reingefallen, was? Ist uns ganz genauso gegangen.«
»Was wollen Sie damit sagen?«
»Ich zeig’ Ihnen mal was, Mister.« Er schlug einen Aktenordner auf, der auf seinem Schreibtisch lag, und reichte David einen Packen Papiere. »Das sind Kopien vom Autopsiebericht, dem Bericht des FBI über die DNS-Untersuchung und den Fingerabdruckvergleich, dazu ein Bericht von Interpol zur Auswertung der Spuren, die wir ihnen zugesandt haben. All diese Männer hatten kurz vor ihrem Tode Geschlechtsverkehr mit einer Frau. An allen fünf Opfern wurden Spuren von Vaginalsekret gefunden. Anfangs ging man davon aus, daß es sich um drei verschiedene Frauen handelt. Nun ja, und dann hat das FBI alle Spuren verglichen und ausgewertet. Und nun raten Sie mal, was dabei rausgekommen ist? Es handelt sich um ein und dieselbe Person - Ashley Patterson nämlich. Ihre Fingerabdrücke wurden an sämtlichen Tatorten gefunden, desgleichen Spuren von Körpersekreten, die allesamt ihr Erbgut aufweisen.«
David starrte ihn ungläubig an. »Sind - sind Sie sich da ganz sicher?«
»Ja. Es sei denn, Sie glauben, daß Interpol, das FBI und fünf verschiedene Polizeilabors Ihrer Mandantin etwas anhängen wollen. Es paßt alles, Mister. Einer der Männer, die sie umgebracht hat, war mein Schwager. Ashley Patterson wird wegen vorsätzlichen Mordes vor Gericht gestellt, und sie wird auch verurteilt werden. Sonst noch was?«
»Ja.« David atmete tief durch. »Ich möchte Ashley Patterson noch mal sprechen.«
Sie wurde wieder in den Besuchsraum gebracht. »Warum haben Sie mich angelogen?« herrschte David sie an, als sie hereinkam.
»Was? Ich habe Sie nicht angelogen. Ich bin unschuldig. Ich habe -«
»Das Beweismaterial, das gegen Sie vorliegt, ist erdrückend. Ich habe Ihnen doch gesagt, daß ich die Wahrheit wissen will.«
Ashley schaute ihn eine ganze Weile lang an. »Ich habe Ihnen die Wahrheit erzählt«, sagte sie dann leise. »Mehr habe ich dazu nicht zu sagen.«
Читать дальше