»Ja.«
David stand auf. »Schicken Sie ihn rein.«
David konnte seine Bestürzung nur mühsam verhehlen, als Dr. Patterson eintrat. Der berühmte Mediziner wirkte alt und abgespannt.
»Hallo, David.«
»Dr. Patterson, nehmen Sie Platz.« David musterte ihn, als er sich behutsam in den Sessel sinken ließ. »Ich habe die Morgennachrichten gehört. Ich - ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie betroffen ich bin.«
Dr. Patterson nickte matt. »Ja. Das war ein ganz schöner Schlag.« Er blickte auf. »Sie müssen mir helfen, David.«
»Selbstverständlich«, erwiderte David, ohne zu zögern. »Ich bin zu allem bereit, jederzeit.«
»Ich möchte, daß Sie Ashley vertreten.«
Es dauerte einen Moment, bis David begriff. »Ich - das kann ich nicht. Ich bin kein Strafverteidiger.«
Dr. Patterson schaute ihm in die Augen. »Und Ashley ist keine Straftäterin.«
»Ich - Sie verstehen das nicht, Dr. Patterson. Ich bin Wirtschaftsrechtler. Aber ich kann Ihnen einen hervorragenden -«
»Bei mir haben sich bereits ein Dutzend sogenannter Staranwälte gemeldet. Alle wollen sie verteidigen.« Er beugte sich vor. »Aber die wittern nur einen aufsehenerregenden Fall, der einen großen Auftritt verspricht. Meine Tochter kümmert die nicht einen Deut. Mich schon. Sie ist mein ein und alles.«
Sie müssen meiner Mutter das Leben retten. Sie ist mein ein und alles. »Ich bin jederzeit bereit, Ihnen zu helfen, aber -« setzte David an.
»Aber Sie waren doch direkt nach dem Jurastudium für einen Strafverteidiger tätig.«
Davids Herz schlug einen Takt schneller. »Ganz recht, aber ich -«
»Sie waren etliche Jahre lang Strafverteidiger.« David nickte. »Ja, aber ich - ich habe mich anderweitig orientiert. Das ist lange her, und -«
»So lange nun auch wieder nicht. Und Sie haben mir seinerzeit erklärt, wie sehr Sie Ihren Beruf lieben. Warum sind Sie eigentlich Wirtschaftsanwalt geworden?«
David schwieg einen Moment. »Das ist doch unwichtig.« Dr. Patterson zog einen von Hand geschriebenen Brief aus der Tasche und reichte ihn David. David kannte ihn auswendig.
»Lieber Dr. Patterson, ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie dankbar ich für Ihre großzügige Hilfe bin und wie tief ich in Ihrer Schuld stehe. Wenn ich jemals etwas für Sie tun kann, brauchen Sie mich nur anzusprechen, und ich werde zu allem bereit sein.«
David starrte wie benommen auf den Brief.
»David, werden Sie mit Ashley sprechen?«
David nickte. »Ja, natürlich werde ich mit ihr sprechen, aber ich -«
Dr. Patterson stand auf. »Vielen Dank.«
David brachte ihn zur Tür.
Warum sind Sie eigentlich Wirtschaftsanwalt geworden? Weil ich einen Fehler begangen habe, der einer Frau, die ich geliebt habe, das Leben gekostet hat. Weil ich mir geschworen habe, daß ich nie mehr im Leben für das Leben eines anderen verantwortlich sein möchte. Niemals.
Ich kann Ashley Patterson nicht verteidigen.
David drückte den Knopf an seiner Gegensprechanlage. »Holly, würden Sie bitte Mr. Kincaid fragen, ob ich gleich bei ihm vorsprechen darf?«
»Ja, Sir.«
Eine halbe Stunde später betrat David das geschmackvoll eingerichtete Büro von Joseph Kincaid. Kincaid war Mitte Sechzig, ein stattlicher, grauhaariger Mann, den nichts auf der Welt erschüttern konnte.
»Na«, sagte er, als David durch die Tür kam, »Sie können sich wohl nicht gedulden, junger Mann? Sollten Sie nicht erst um fünf bei mir vorsprechen?«
David ging zum Schreibtisch. »Ich weiß. Aber ich wollte etwas anderes mit Ihnen besprechen, Joseph.«
Vor etlichen Jahren hatte David ihn einmal mit »Joe« angeredet, worauf der Alte ihn prompt zur Schnecke gemacht hatte. Unterstehen Sie sich, mich noch einmal mit Joe anzusprechen.
»Setzen Sie sich, David.«
David nahm Platz.
»Zigarre? Die stammen aus Kuba.«
»Nein, danke.«
»Worum geht es?«
»Dr. Patterson ist eben bei mir gewesen.«
»Es kam heute morgen in den Nachrichten«, sagte Kincaid. »Schöne Schweinerei. Was wollte er von Ihnen?«
»Ich soll seine Tochter verteidigen.«
Kincaid schaute David verwundert an. »Sie sind doch gar kein Strafverteidiger.«
»Das habe ich ihm auch gesagt.«
»Nun denn.« Kincaid dachte einen Moment lang nach. »Wissen Sie, einen Mandanten wie Dr. Patterson kann man sich nur wünschen. Er ist einflußreich. Er könnte unserer Kanzlei allerhand neue Aufträge verschaffen. Außerdem hat er beste Beziehungen zu etlichen Staatsorganisationen, die -«
»Das ist noch nicht alles.«
Kincaid schaute David fragend an. »Aha?«
»Ich habe ihm versprochen, daß ich mit seiner Tochter rede.«
»So, so. Nun ja, ich nehme an, das kann nichts schaden. Reden Sie mit ihr, und hinterher setzen wir uns zusammen und suchen einen guten Strafverteidiger für sie aus.«
»Genau das hatte ich vor.«
»Gut. Wir werden ihm Hilfestellung geben. Sie nehmen sich der Sache an.« Er lächelte. »Wir sprechen uns um fünf.«
»Schön. Vielen Dank, Joseph.«
Warum besteht Dr. Patterson unbedingt darauf, daß ich seine Tochter verteidige? dachte David, als er zu seinem Büro zurückging.
Unterdessen saß Ashley Patterson teilnahmslos in ihrer Zelle im Bezirksgefängnis von Santa Clara und wußte nicht, wie ihr geschah. Einerseits war sie heilfroh, daß sie im Gefängnis saß, weil ihr hinter Gittern niemand etwas antun konnte. Sie verschanzte sich regelrecht in ihrer Zelle und versuchte all das Schreckliche und Unerklärliche, das ihr widerfahren war, zu verdrängen. Ihr Leben war zu einem einzigen Alptraum geworden. Ashley dachte über die rätselhaften Vorfälle in letzter Zeit nach - über den Einbruch in ihre Wohnung und die Streiche, die man ihr gespielt hatte ... das Wochenende in Chicago ... die Schmiererei auf ihrem Spiegel. Und jetzt bezichtigte die Polizei sie unsäglicher Taten, die sie nie und nimmer begangen hatte. Sie kam sich vor, als hätte sich alle Welt gegen sie verschworen, aber sie hatte keine Ahnung, wer oder was dahintersteckte.
Frühmorgens war eine Wärterin zu ihrer Zelle gekommen. »Besuch.«
Sie hatte Ashley zu einem Sprechzimmer gebracht, in dem ihr Vater sie erwartete.
Er hatte dagestanden und sie mit bedrückter Miene betrachtet. »Mein Schatz - ich weiß nicht, was ich sagen soll.«
»Ich war’s nicht. So was Schreckliches brächte ich gar nicht fertig.«
»Das weiß ich doch. Hier handelt es sich um ein schreckliches Mißverständnis, aber wir werden das schon wieder bereinigen.«
Ashley schaute ihren Vater an und fragte sich, wie sie jemals auf die Idee hatte kommen können, daß er hinter den Mordtaten steckte.
»... keine Sorge«, sagte er gerade. »Das wird schon wieder. Ich habe einen Anwalt für dich. David Singer heißt er. Ein junger Mann, aber blitzgescheit. Er wird vorbeikommen und mit dir sprechen. Ich möchte, daß du ihm alles erzählst.«
Ashley blickte ihren Vater an. »Ich - ich weiß nicht, was ich ihm sagen soll«, versetzte sie tonlos. »Ich weiß ja überhaupt nicht, was los ist.«
»Wir werden der Sache schon auf den Grund gehen, mein Schatz. Ich werde jedenfalls nicht zulassen, daß man dir etwas zuleide tut. Nie und nimmer! Du bedeutest mir zuviel. Du bist mein ein und alles.«
»Du auch«, flüsterte Ashley.
Ashleys Vater blieb über eine Stunde. Nachdem er gegangen war, wurde Ashley wieder in die kleine Zelle zurückgebracht, in der man sie verwahrte. Sie legte sich auf die Pritsche und zwang sich dazu, sich keinerlei Gedanken zu machen. Das wird bald vorüber sein, und dann werde ich feststellen, daß alles nur ein Traum war ... Nur ein Traum ... Nur ein Traum. Sie schlief ein.
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