»Hat man diese Toni Prescott aufgegriffen?«
»Non.«
»Und warum nicht?«
»Wir konnten sie noch nicht ausfindig machen. Wir haben sämtliche Hotels in der Stadt überprüft. Wir haben unsere Akten und die Unterlagen des FBI zu Rate gezogen. Es liegt keine Geburtsurkunde von ihr vor, keine Sozialversicherungsnummer, kein Führerschein.«
»Das ist doch unmöglich! Könnte sie die Stadt verlassen haben?«
Fontaine schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht, Inspektor. Der Flughafen schließt um Mitternacht. Der letzte Zug ist gestern um siebzehn Uhr fünfunddreißig abgefahren. Der nächste fährt erst heute morgen um sechs Uhr neununddreißig. Wir haben die Personenbeschreibung an den Busbahnhof, die beiden Taxiunternehmen und die Mietwagenfirma weitergegeben.«
»Herrgott noch mal, wir wissen, wie sie heißt, wie sie aussieht, und wir haben ihre Fingerabdrücke. Sie kann sich doch nicht in Luft aufgelöst haben.«
Eine Stunde später traf der Bericht des FBI ein. Man hatte die Fingerabdrücke nicht zuordnen können. Außerdem gab es keinerlei Unterlagen über eine Toni Prescott.
Fünf Tage nach ihrer Rückkehr aus Quebec bekam Ashley einen Anruf von ihrem Vater. »Ich bin wieder da.«
»Da?« Es dauerte einen Moment, bis Ashley sich erinnerte. »Oh. Dein Patient in Argentinien. Wie geht’s ihm?«
»Er wird überleben.«
»Das freut mich.«
»Kannst du morgen zum Abendessen nach San Francisco hochkommen?«
Ihr graute beim bloßen Gedanken daran, ihn sehen zu müssen, aber ihr fiel keine Ausrede ein. »Von mir aus.«
»Wir treffen uns im Restaurant Lulu. Um acht Uhr.«
Ashley wartete bereits, als ihr Vater in das Restaurant kam. Wieder sah sie die bewundernden Blicke, die ihm die Leute zuwarfen, als sie ihn erkannten. Ihr Vater war ein berühmter Mann. Würde er alles, was er geleistet hatte, aufs Spiel setzen, nur damit —?
Dann war er an ihrem Tisch.
»Schön, dich zu sehen, mein Schatz. Tut mir leid, daß wir das Weihnachtsessen ausfallen lassen mußten.«
»Mir auch«, erwiderte sie. Sie mußte sich regelrecht dazu zwingen.
Sie starrte auf die Speisekarte, ohne sie wahrzunehmen, und versuchte ihre Gedanken zu ordnen.
»Was möchtest du denn?«
»Ich - ich bin eigentlich gar nicht hungrig«, sagte sie.
»Du mußt aber etwas essen. Du wirst zu schmal.«
»Ich nehme das Hühnchen.«
Sie betrachtete ihren Vater, als er das Essen bestellte, und fragte sich, ob sie es wagen sollte, das Thema anzuschneiden.
»Wie war’s in Quebec?«
»Sehr interessant«, erwiderte Ashley. »Es ist eine wunderschöne Stadt.«
»Irgendwann müssen wir mal zusammen dorthin fahren.«
»Ja«, sagte sie und faßte einen Entschluß. Sie versuchte so beiläufig wie möglich zu klingen. »Übrigens - ich war letzten Juni zum zehnjährigen Klassentreffen in Bedford.«
Er nickte. »Hat es dir gefallen?«
»Nein.« Sie sprach langsam, wählte sorgfältig ihre Worte. »Ich - ich habe erfahren, daß man einen Tag, nachdem du und ich nach London abgereist sind, Jim Clearys Leiche gefunden hat. Er wurde erstochen ... und entmannt.« Sie saß da und beobachtete ihn, wartete auf eine Reaktion.
Dr. Patterson runzelte die Stirn. »Cleary? Ach ja. Dieser Junge, der hinter dir her war. Vor dem habe ich dich bewahrt, nicht wahr?«
Was meinte er damit? War das ein Geständnis? Hatte er Jim Cleary umgebracht, weil er sie vor ihm bewahren wollte?
Ashley holte tief Luft und fuhr fort: »Dennis Tibble wurde auf die gleiche Art ermordet. Er wurde erstochen und entmannt.« Sie sah, wie ihr Vater ein Brötchen nahm und es sorgfältig mit Butter bestrich.
»Das überrascht mich nicht, Ashley«, sagte er schließlich. »Mit schlechten Menschen nimmt es meist ein böses Ende.«
Und das sagte ein Arzt, ein Mann, der eigentlich anderen Menschen das Leben retten sollte. Ich werde ihn nie verstehen, dachte Ashley. Ich glaube, ich will es gar nicht.
Als sie gegessen hatten, war Ashley der Wahrheit keinen Schritt nähergekommen.
»Quebec hat mir echt gefallen, Alette«, sagte Toni. »Eines Tages möchte ich mal wieder hin. Hat’s dir auch Spaß gemacht?«
»Die Museen haben mir gefallen«, erwiderte Alette schüchtern.
»Hast du deinen Freund in San Francisco schon angerufen?« sagte Toni neckend.
»Er ist nicht mein Freund.«
»Aber ich wette, das möchtet du gern, nicht?«
»Forse. Vielleicht.«
»Wieso rufst du ihn dann nicht an?«
»Ich finde, es gehört sich nicht, daß -«
»Ruf ihn an.«
Sie verabredeten sich im De Young Museum.
»Ich habe Sie vermißt«, sagte Richard Melton. »Wie war’s in Quebec?«
»Va bene.«
»Ich wünschte, ich hätte Sie begleiten können.«
Eines Tages vielleicht, dachte Alette hoffnungsvoll. »Wie kommen Sie mit Ihrer Malerei voran?«
»Nicht schlecht. Ich habe gerade eins meiner Bilder an einen bekannten Kunstsammler verkauft.«
»Phantastisch!« Sie freute sich aufrichtig. Und unwillkürlich dachte sie: Wenn ich mit ihm zusammen bin, ist alles so anders. Bei jemand anderem wäre mir dazu nur irgend etwas Abschätziges eingefallen. »Wer leidet denn derart an Geschmacksverirrung, daß er Geld für deine Bilder ausgibt« zum Beispiel, oder »Gib bloß deinen Brotberuf nicht auf« oder hundert andere bissige Bemerkungen. Aber nicht bei Richard.
Alette konnte es kaum glauben. Sie fühlte sich wie befreit, so als wäre sie von einer auszehrenden Krankheit genesen.
Sie aßen in der Cafeteria des Museums zu Mittag.
»Was möchten Sie?« fragte Richard. »Das Roastbeef hier ist ausgezeichnet.«
»Danke, aber ich bin Vegetarierin. Ich nehme bloß einen Salat.«
»Na gut.«
Eine junge, attraktive Bedienung kam an ihren Tisch. »Hallo, Richard.«
Alette spürte mit einemmal einen Stich Eifersucht. Sie wunderte sich über ihre Reaktion.
»Hallo, Bernice.«
»Wißt ihr schon, was ihr bestellen wollt?«
»Ja. Miss Peters nimmt einen Salat und ich ein Roastbeefsandwich.«
Die Kellnerin musterte Alette. Ist sie etwa eifersüchtig auf mich? fragte sich Alette. »Sie ist ziemlich hübsch«, sagte Alette, als die Bedienung wieder weg war. »Kennen Sie sie näher?« Sie errötete augenblicklich. Ich wünschte, ich hätte nicht danach gefragt.
Richard lächelte. »Ich komme ziemlich oft hierher. Anfangs hatte ich nicht viel Geld. Wenn ich mir ein Sandwich bestellt habe, hat Bernice mir ein richtiges Festmahl aufgetischt. Sie ist klasse.«
»Sie macht einen sehr netten Eindruck«, sagte Alette. Und dachte: Hat ziemlich fette Schenkel.
Anschließend unterhielten sie sich über Malerei.
»Eines Tages möchte ich mal nach Giverny fahren«, sagte Alette. »Wo Monet gemalt hat.«
»Haben Sie gewußt, daß Monet ursprünglich Karikaturist war?«
»Nein.«
»Ist aber so. Dann ist er Boudin begegnet, der ihn zu sich in die Lehre genommen und dazu überredet hat, draußen in der Natur zu malen. Es gibt eine großartige Geschichte darüber. Monet war schließlich so auf die Arbeit unter freiem Himmel versessen, daß er einmal, als er eine Frau im Garten malen wollte, einen Graben ausheben ließ, damit er die rund zweieinhalb Meter hohe Leinwand mittels Flaschenzügen je nach Bedarf versenken und wieder hochfahren konnte. Das Bild hängt heute im Musee d’Orsay in Paris.«
Die Zeit verging wie im Flug.
Nach dem Essen streiften Alette und Richard durch die Räume und schauten sich die diversen Ausstellungsstücke an. Das Museum besaß über vierzigtausend Exponate aus sämtlichen Epochen, von altägyptischer Kunst bis zu zeitgenössischer amerikanischer Malerei.
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