»Ja.« Kelly drückte Mark den Hund in die Arme. »Sie kann Ihnen beim Essen Gesellschaft leisten«, sagte sie in eisigem Tonfall, wandte sich ab und wollte gehen.
»Das verstehe ich nicht«, sagte Mark. »Ich dachte .«
»Tja, dann werde ich es Ihnen zum letzten Mal erklären«, versetzte Kelly. »Ich möchte nicht mehr von Ihnen belästigt werden. Verstehen Sie das?«
Mark Harris’ Gesicht lief rot an. »Ja. Ja, natürlich. Tut mir Leid. Ich . ich wollte nicht . Ich dachte bloß . Ich weiß nicht, was . Ich möchte das gern erklären. Wollen Sie nicht einen Moment Platz nehmen?«
Kelly wollte bereits Nein sagen, setzte sich dann aber und musterte ihn mit verächtlicher Miene. »Ja?«
Mark Harris atmete tief durch. »Es tut mir wirklich Leid. Ich wollte Sie nicht belästigen. Ich habe Ihnen diese Sachen geschickt, um mich bei Ihnen zu entschuldigen. Ich wollte lediglich eine Chance - als ich Ihr Bild gesehen habe, hatte ich das Gefühl, als ob ich Sie schon ein Leben lang kenne. Und als ich Sie dann persönlich gesehen habe und Sie noch .« Er geriet vor lauter Verlegenheit ins Stammeln. »Ich hätte mir darüber klar sein müssen, dass jemand wie Sie kein Interesse an jemandem wie . Ich . ich habe mich wie ein dummer Schuljunge benommen. Es ist mir so peinlich. Es ist nur so, dass ich . Ich wusste nicht, wie ich Ihnen erklären sollte, wie mir zumute war, und . « Mit einem Mal wirkte er ungemein verletzlich. »Ich kann einfach . Ich kann meine Gefühle schlecht erklären. Ich bin mein Leben lang allein gewesen. Niemand hat jemals . Meine Eltern haben sich scheiden lassen, als ich sechs war, und danach gab es einen langen Streit ums Sorgerecht. Keiner von beiden wollte mich haben.«
Kelly betrachtete ihn schweigend. Seine Worte gingen ihr durch den Kopf und brachten längst verdrängte Erinnerungen zurück.
Warum bist du den Balg nicht losgeworden, bevor er zur Welt gekommen ist?
Ich hab’s ja versucht. Es hat nicht geklappt.
Er fuhr fort. »Ich bin in einem halben Dutzend verschiedener Pflegeheime aufgewachsen, wo sich niemand irgendwas .«
Das sind deine Onkel. Ärger sie nicht.
»Ich hatte das Gefühl, dass ich es niemand recht .«
Das Essen ist miserabel ... Das Kleid steht dir nicht ... Du hast die Badezimmer immer noch nicht geputzt ...
Kelly wurde von seinen Erklärungen mehr und mehr in Bann geschlagen.
Ich habe beschlossen, Model zu werden.
Sämtliche Models sind Nutten.
»Ich habe davon geträumt, aufs College zu gehen, aber sie haben gesagt, für die Arbeit, die ich mal machen werde, bräuchte ich ... bräuchte ich keine höhere Schuldbildung.«
Was zum Teufel willst du auf ’ner Schule? Bei deinem Aussehen könntest du schon eher anschaffen gehen.
»Als ich ein Stipendium fürs MIT bekommen habe, haben meine Pflegeeltern gesagt, ich würde das Studium vermutlich sowieso nicht schaffen und sollte lieber in einer Autowerkstatt arbeiten .«
Aufs College? Du vergeudest bloß vier Jahre deines Lebens ...
Was dieser Fremde ihr erzählte, kam ihr vor wie eine Wiederholung all der Vorhaltungen, die sie sich einst hatte anhören müssen. Kelly saß zutiefst berührt da, konnte nur zu gut nachempfinden, was dieser Mann durchgemacht hatte.
»Als ich mein Studium am MIT abgeschlossen hatte, wurde ich von der Kingsley International Group eingestellt und arbeitete in deren Filiale in Paris. Aber ich war so einsam.«
Er schwieg eine Weile. »Vor langer Zeit habe ich mal irgendwo gelesen, dass es im Leben nicht Schöneres gibt, als jemanden zu finden, den man liebt und der einen ebenfalls liebt ... Und ich habe es geglaubt.«
Kelly saß schweigend da.
»Aber ich habe niemanden gefunden und wollte bereits aufgeben«, sagte Mark Harris verlegen. »Und dann habe ich eines Tages Sie gesehen .« Er konnte nicht weitersprechen.
Er stand auf, Angel immer noch auf dem Arm. »Ich schäme mich so. Ich verspreche Ihnen, dass ich Sie nie wieder behelligen werden. Auf Wiedersehen.«
Kelly sah, wie er sich abwandte und wegging. »Wohin wollen Sie mit meinem Hund?«, rief sie.
Mark Harris drehte sich verdutzt um. »Wie bitte?«
»Angel gehört mir. Sie haben sie mir geschenkt, nicht wahr?«
Mark stand verwirrt da. »Ja, aber Sie haben doch gesagt .«
»Ich mache Ihnen einen Vorschlag, Mr. Harris. Ich behalte Angel, und Sie erhalten ein Besuchsrecht.«
Es dauerte einen Moment, bis er begriff, aber dann strahlte er übers ganze Gesicht. »Sie meinen, ich darf ... Sie lassen mich ...?«
»Warum besprechen wir das nicht heute Abend beim Essen?«, fragte Kelly.
Und sie hatte keine Ahnung, dass sie sich in diesem Augenblick in Lebensgefahr gebracht hatte.
Paris
In der Polizeizentrale Reuilly an der Rue Hénard im 12. Arrondissement von Paris fand eine Vernehmung statt. Der Verwalter des Eiffelturms musste den Kriminalbeamten André Belmondo und Pierre Marais Rede und Antwort stehen.
ERMITTLUNG IM FALL DES SELBSTMORDS AM EIFFELTUM
Montag, 6. Mai 10 Uhr Name des Vernommenen: Rene Pascal
BELMONDO: Monsieur Pascal, wir haben Grund zur Annahme, dass Mark Harris, der Mann, der angeblich von der Aussichtsplattform des Eiffelturms fiel, ermordet wurde.
PASCAL: Ermordet? Aber ... man hat mir doch gesagt, dass es ein Unfall war und ...
MARAIS: Er konnte nicht versehentlich über die Brüstung fallen. Dazu ist sie viel zu hoch.
BELMONDO: Außerdem haben wir in Erfahrung gebracht, dass das Opfer nicht selbstmordgefährdet war. Er wollte am Wochenende mit seiner Frau ausgehen und hatte schon alle entsprechenden Vorbereitungen getroffen. Er war mit Kelly verheiratet- dem Mannequin.
PASCAL: Tut mir Leid, meine Herren, aber ich verstehe nicht, was ... weshalb man mich hierher bestellt hat.
MARAIS: Damit Sie helfen, ein paar Fragen zu klären. Wann hat das Restaurant an diesem Abend geschlossen?
PASCAL: Um 22 Uhr. Wegen des Unwetters war das Jules Verne leer, deshalb beschloss ich .
MARAIS: Wann wurden die Aufzüge abgestellt?
PASCAL: Normalerweise sind sie bis Mitternacht in Betrieb, aber da an diesem Abend weder Touristen noch Gäste da waren, habe ich sie um 22 Uhr außer Betrieb genommen.
BELMONDO: Auch den Aufzug, der zur Aussichtsplattform führt?
PASCAL: Ja. Alle.
MARAIS: Kann man auch zur Aussichtsplattform gelangen, ohne den Aufzug zu benutzen?
PASCAL: Nein. An diesem Abend war alles abgeschlossen. Ich verstehe nicht, was das alles soll. Wenn ...
BELMONDO: Ich will Ihnen erklären, worum es geht. Monsieur Harris wurde von der Aussichtsplattform geworfen.
Wir wissen das, weil wir bei einer Untersuchung der Brüstung Kratzspuren an der Krone gefunden haben, und die Zementspuren, die im Profil seiner Schuhsohlen hafteten, stimmen mit dem Zement der Brüstung überein. Wenn die Plattform abgeschlossen war und die Aufzüge nicht in Betrieb waren, wie ist er dann um Mitternacht hinaufgekommen?
PASCAL: Ich weiß es nicht. Ohne Aufzug wäre das ... ist das nicht möglich.
MARAIS: Aber Monsieur Harris ist mit einem Aufzug hinaufgefahren, und sein Mörder beziehungsweise seine Mörder müssen ebenfalls mit dem Aufzug hinauf- und wieder heruntergefahren sein.
BELMONDO: Könnte ein Fremder den Aufzug bedienen?
PASCAL: Nein. Die Fahrstuhlführer verlassen die Aufzüge nicht, solange sie im Dienst sind, und um Mitternacht wird mit einem Spezialschlüssel abgeschlossen.
MARAIS: Wie viele Schlüssel gibt es?
PASCAL: Drei. Ich habe einen, und die beiden anderen werden dort verwahrt.
BELMONDO: Sind Sie sicher, dass der letzte Aufzug um 22 Uhr abgestellt wurde?
PASCAL: Ja.
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