Schon früher war Mel manchmal, wenn er nachdenken wollte, aufs Flugfeld hinausgegangen, um dort ruhig und allein zu überlegen. Heute abend hatte er das nicht vorgehabt, überraschte sich jetzt aber dabei, daß er es tat — sich fragte, nachsann, wie er es die letzten Tage sooft getan hatte, über die Zukunft des Flughafens und seine eigene.
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Es war noch keine fünf Jahre her, seit der Flughafen als einer der besten und modernsten der Welt gegolten hatte. Delegationen besichtigten ihn voll Bewunderung. Lokalpolitiker wiesen voll Stolz auf ihn hin und warfen sich mit »Führung in der Luftfahrt« und »ein Symbol des Düsenzeitalters« in die Brust. Heute warfen sich die Politiker immer noch in die Brust, allerdings mit weniger Berechtigung. Was die meisten nicht erkannten, war, daß Lincoln International Airport, wie auch eine überraschend große Zahl anderer großer Flughäfen, dicht davor stand, zu einer gekalkten Gruft zu werden.
Mel Bakersfeld brütete über dem Ausdruck »gekalkte Gruft«, während er in der Dunkelheit über die Startbahn Eins-Sieben links fuhr. Es war eine treffende Definition, dachte er. Die Mängel des Flughafens waren ernst und grundlegend, aber da sie zum größten Teil der Öffentlichkeit nicht ins Auge fielen, waren sie nur Eingeweihten bekannt.
Reisende und Besucher sahen auf Lincoln International hauptsächlich das Hauptempfangsgebäude — ein hellbeleuchtetes Taj Mahal mit Klimaanlage. Der Bau aus schimmerndem Glas und Chrom war imposant weiträumig angelegt. Seine von Menschen überfüllten Wandelgänge grenzten an elegante Warteräume. Zahlreiche Anlagen zur Bedienung des Publikums säumten den Bereich der Passagiere. Sechs Spezialitätenrestaurants reichten von einem Speisesaal für Gourmets, mit goldgeränderten Tellern und entsprechenden Preisen, bis hinunter zu Würstchenständen. Bars, mit schummriger Beleuchtung oder von Neonröhren erhellt und ohne Sitzgelegenheiten, waren ebenso zahlreich wie die Toilettenräume. Während ein Fluggast auf seine Maschine wartete, konnte er, ohne das Gebäude zu verlassen, einkaufen, ein Zimmer mit Bett nehmen oder ein Dampfbad mit Massage, sich die Haare schneiden, seinen Anzug bügeln, die Schuhe putzen lassen und sogar sterben und sein Begräbnis den Holy Ghost Memorial Gardens übertragen, die eine Zweigstelle an einem der unteren Wandelgänge unterhielten.
Wenn man nach dem Empfangsgebäude allein urteilte, war der Flughafen noch beeindruckend. Seine Mängel lagen im Betriebsbereich, besonders bei den Start- und Taxibahnen.
Wenigen der achtzigtausend Passagiere, die täglich eintrafen und abflogen, war bekannt, wie unzulänglich und deshalb gefährlich das System der Startbahnen geworden war. Bereits vor einem Jahr hatten Startbahnen und Taxiwege kaum noch ausgereicht; jetzt wurden sie bedrohlich überfordert. Bei normal starkem Verkehr startete oder landete auf den beiden Hauptrollbahnen alle dreißig Sekunden eine Maschine. Die Lage von Meadowood und die Rücksicht, die der Flughafen auf die Bewohner der Gemeinde nahm, machten es in Stoßzeiten notwendig, eine Ausweichstartbahn zu benutzen, die eine der beiden anderen kreuzte. Infolgedessen starteten und landeten Flugzeuge auf sich überschneidenden Kursen, und es gab Augenblicke, in denen die Kontroller den Atem anhielten und beteten. Erst in der vergangenen Woche hatte Keith Bakersfeld, Mels Bruder, grimmig prophezeit: »Na schön, wir stehen also hier im Turm auf Zehenspitzen und werden mit den haarigsten Situationen fertig, und wir haben auch noch nie zwei Flugzeuge gleichzeitig an die Kreuzung gebracht; aber eines Tages wird es einen Augenblick mangelnder Aufmerksamkeit oder eine falsche Beurteilung der Lage geben, und dann ist einer von uns dran. Ich hoffe zu Gott, daß ich es nicht bin, denn dann passiert noch einmal dasselbe wie im Grand Canyon.«
Die Kreuzung, von der Keith gesprochen hatte, war dieselbe, die von der Conga-Kette gerade überquert worden war. Mel, im Führerhaus der Schneeschleuder, blickte nach hinten. Die Conga-Kette hatte sie inzwischen klar hinter sich gelassen, und durch eine Lücke im treibenden Schnee waren auf der anderen Startbahn die Positionslichter eines Flugzeugs sichtbar, die sich schnell bewegten, als die Maschine startete. Und dann tauchten plötzlich nur wenige Meter dahinter weitere Lichter auf, als eine zweite Maschine landete, im gleichen Augenblick, wie es schien.
Auch der Fahrer der Schneeschleuder hatte den Kopf gewendet. Er stieß einen Pfiff aus. »Das ist aber gerade noch mal gutgegangen.«
Mel nickte. Sie waren dicht hintereinander gewesen, ungewöhnlich dicht, und einen Augenblick lang war ihm eine Gänsehaut über den Rücken gelaufen. Offensichtlich hatte einer der Kontroller bei seinen Anweisungen an die Piloten der beiden Maschinen die Abstände haargenau abgeschätzt. Wie üblich hatte sich sein auf Erfahrung beruhendes Urteil als richtig erwiesen, wenn auch nur gerade noch. Die beiden Maschinen waren in Sicherheit — die eine jetzt in der Luft, die andere auf dem Boden. Aber die Notwendigkeit zu derartig haarscharfen Beurteilungen schuf eine nicht endende Kette von Gefahren.
Mel hatte auf diese Gefahren vor dem Verwaltungsrat des Flughafens und Mitgliedern des Stadtrats, die über die Finanzierung des Flughafens bestimmten, häufig genug hingewiesen. Er hatte nicht nur auf den sofortigen Bau zusätzlicher Start- und Taxibahnen gedrängt, sondern auch auf den Erwerb von zusätzlichem Gelände am Flughafen für den langfristigen Ausbau. Es war zu vielen Diskussionen und mitunter heftigen Auseinandersetzungen gekommen. Nur wenige Mitglieder des Verwaltungsrates und des Stadtrates sahen das ein; andere vertraten scharf einen entgegengesetzten Standpunkt. Es war schwer, Leute davon zu überzeugen, daß ein moderner, Ende der fünfziger Jahre für Düsenflugzeuge gebauter Flughafen so schnell bis an die Grenze der Gefährdung untauglich geworden sein sollte. Es spielte keine Rolle, daß das gleiche für andere Zentren auch zutraf— New York, San Francisco, Chicago und andere; gewisse Dinge wollten Politiker einfach nicht sehen.
Vielleicht hat Keith recht, dachte Mel. Vielleicht war eine weitere große Katastrophe erforderlich, um die Öffentlichkeit aufzuwecken, so wie die Katastrophe am Grand Canyon 1956 Präsident Eisenhower und den 84. Kongreß angestachelt hatte, die Luftstraßen neu festzulegen. Ironischerweise gab es aber selten die geringsten Schwierigkeiten, wenn es darum ging, Geld für Verbesserungen zu bekommen, die nicht den technischen Betrieb betrafen. Ein Vorschlag, alle Parkplätze dreistöckig auszubauen, hatte ohne Gegenstimme die Billigung der Stadt gefunden. Aber das war etwas, das die Öffentlichkeit — einschließlich jener, die Wählerstimmen hatte — sehen und anfassen konnte. Mit Start- und Taxibahnen war das anders. Eine einzige neue Startbahn kostete mehrere Millionen Dollar, und es dauerte zwei Jahre, sie zu bauen, aber nur wenige Menschen, außer den Piloten, Kontrollern und den Leitern von Flughäfen wußten jemals, wie gut oder wie schlecht ein System von Startbahnen war.
Jedoch auf Lincoln International stand eine Klärung bald bevor. Sie mußte kommen. In den vergangenen Wochen hatte Mel die Vorzeichen erkannt, und wenn es dazu kam, war die Wahl klar — zwischen der Weiterentwicklung auf dem Boden, die dem jüngst Erreichten in der Luft entsprach, oder ohnmächtigem Zurückbleiben. In der Luftfahrt gab es niemals einen Status quo.
Noch ein weiterer Faktor spielte mit.
Ebensosehr wie die Zukunft des Flughafens stand Mels persönliche Zukunft auf dem Spiel. In welche Richtung die Politik des Flughafens auch gesteuert wurde, durch sie würde sein eigenes Ansehen bei den Stellen, auf die es am meisten ankam, gefördert oder gemindert werden.
Vor kurzem noch war Mel ein im ganzen Land anerkannter Sprecher für die Bodenlogistik der Luftfahrt gewesen, war als das aufsteigende junge Genie in der Organisation der Luftfahrt gepriesen worden. Dann hatte unvermittelt ein einziges schmerzliches Ereignis die Änderung herbeigeführt. Heute, fünf Jahre später, lag die Zukunft nicht mehr klar vor ihm, und andere zweifelten und stellten Fragen nach Mel Bakersfeld, ebenso wie er selbst.
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