In der für Demerest charakteristischen Weise hatte er dem Prüfungsflug am Nachmittag einen Telefonanruf bei Kapitän Anson Harris vorausgeschickt. »Wir werden heute abend schlechte Straßenverhältnisse haben«, begann Demerest ohne weitere Vorrede. »Ich lege Wert darauf, daß meine Besatzung pünktlich ist. Deshalb rege ich an, daß Sie sich reichlich Zeit nehmen, um zum Flughafen zu kommen.« Anson Harris, der in zweiundzwanzig Dienstjahren bei der Trans America nie zu einer Beanstandung Anlaß gegeben hatte und zu keinem einzigen Flug verspätet zum Flughafen gekommen war, war so empört, daß er fast erstickte. Zum Glück hängte Demerest den Hörer ein, bevor er nur ein Wort herausbrachte.
Immer noch kochend, aber um sicherzugehen, daß Demerest ihm nichts anhaben konnte, war Kapitän Harris fast drei Stunden vor der Abflugzeit, statt der üblichen einen Stunde, auf dem Flughafen eingetroffen. Kapitän Demerest, von seinem Erfolg beim Schneekomitee der Fluggesellschaften in bester Laune, war Harris in dem Cloud Captain's Coffee Shop begegnet. Demerest trug eine Tweedjacke und eine Flanellhose. Er bewahrte eine Reserveuniform auf dem Flughafen auf und beabsichtigte, sich später umzuziehen, Kapitän Harris, ein ergrauter, bewährter Veteran, den viele jüngere Piloten mit »Sir« anredeten, trug die Pilotenuniform der Trans America.
»Hallo, Anson.« Vernon Demerest ließ sich auf dem Platz an der Theke neben Harris nieder. »Wie ich sehe, sind Sie meinem guten Rat gefolgt.«
Kapitän Harris faßte den Henkel seiner Kaffeetasse etwas fester, antwortete aber nur: »Guten Abend, Vern.«
»Wir wollen mit dem Briefing für den Flug zwanzig Minuten früher als sonst anfangen«, sagte Demerest. »Ich möchte Ihre Flughandbücher überprüfen.«
Gott sei Dank, dachte Harris. Seine Frau hatte seine Flughandbücher erst gestern durchgesehen und die neuesten Ergänzungen eingefügt. Aber es war wohl besser, wenn er noch einmal in seinem Postfach im Dienstzimmer nachsah. Dieser Schuft brachte es fertig, ihm einen Fehler anzukreiden, weil er eine Ergänzung noch nicht aufgenommen hatte, die erst an diesem Nachmittag herausgegeben worden war. Um seine Hände zu beschäftigen, die ihm juckten, stopfte Kapitän Harris seine Pfeife und zündete sie an. Er merkte, daß Vernon Demerest ihn dabei kritisch musterte.
»Sie tragen ein vorschriftswidriges Hemd.«
Einen Augenblick lang konnte Kapitän Harris nicht glauben, daß sein Kollege das ernst meinte. Als er aber erkannte, daß es doch der Fall war, lief sein Gesicht dunkelrot an.
Dienstlich vorgeschriebene Hemden waren ein wunder Punkt für die Piloten der Trans America, so gut wie für die Piloten" anderer Gesellschaften. Sie konnten nur durch die Gesellschaft bezogen werden, kosteten neun Dollar das Stück, saßen oft schlecht und waren aus fragwürdigem Material. Zwar widersprach es den Vorschriften, aber man konnte sich selbst um mehrere Dollar billiger ein viel besseres Hemd kaufen, dessen äußere Unterschiede kaum zu bemerken waren. Die meisten Piloten kauften sich vorschriftswidrige Hemden und trugen sie. Auch Vernon Demerest tat das. Bei mehreren Gelegenheiten hatte Anson Harris Demerest gering-schützig über die Hemden der Gesellschaft sprechen und auf die überlegene Qualität seiner eigenen hinweisen hören.
Kapitän Demerest winkte der Kellnerin nach Kaffee und beruhigte Harris dann: »Es spielt jetzt keine Rolle. Ich werde nicht berichten, daß Sie hier ein unvorschriftsmäßiges Hemd getragen haben, solange Sie sich umziehen, ehe Sie sich zu meinem Flug melden.«
Halte an dich !sagte Anson Harris zu sich selbst. Lieber Gott im Himmel, gib mir die Kraft nicht herauszuplatzen, denn das ist es wahrscheinlich, was der gemeine Schweinehund will. Aber warum? Warum?
Also gut! Also gut, beschloß er, und wenn es eine Demütigung ist, ich werde dieses vorschriftswidrige Hemd mit einem den Vorschriften entsprechenden tauschen. Er würde Demerest nicht die Genugtuung gönnen, ihm bei der Überprüfung auch nur einen einzigen winzigen Minuspunkt nachzuweisen. Es würde schwer sein, sich heute abend noch ein Hemd der Gesellschaft zu beschaffen. Wahrscheinlich mußte er sich eins leihen — sein Hemd mit einem anderen Kapitän oder Ersten Offizier tauschen. Wenn er ihnen sagte, warum, würden sie ihm kaum glauben. Er konnte es selbst kaum glauben.
Aber wenn der nächste Prüfungsflug von Demerest kam — der nächste und von diesem Augenblick an alle weiteren —, er sollte sich vorsehen. Anson Harris hatte unter den anderen Piloten, die Prüfungsflüge abnahmen, gute Freunde. Demerest sollte vorgeschriebene Hemden tragen; Demerest sollte auch in jeder anderen Weise, selbst in den geringfügigsten Punkten, die Vorschriften befolgen — sonst. . .! Dann dachte Harris düster: Der gerissene Hund wird sich daran erinnern; er wird sich das genau merken.
»He, Anson.« Demerest schien sich zu amüsieren. »Sie haben das Mundstück Ihrer Pfeife durchgebissen.«
Das stimmte tatsächlich.
Als Vernon Demerest sich daran erinnerte, lachte er leise vor sich hin. Das würde heute nacht ein leichter Flug werden — für ihn.
Seine Gedanken kehrten zum gegenwärtigen Augenblick zurück, als der Fahrstuhl im zweiten Stock des Apartmenthauses hielt. Er trat auf den mit Teppich ausgelegten Korridor hinaus und wandte sich zielsicher nach links, ging zu dem Apartment, das Gwen Meighen mit einer Stewardess der United Air Lines teilte. Das andere Mädchen war auf einem Nachtflug, wie Demerest von Gwen wußte. An der Apartmenttür gab er das übliche Signal, seine Initialen in Morse — dit-dit-dit-dah dah-dit-dit —, öffnete dann die Tür mit dem gleichen Schlüssel, mit dem er die Haustür aufgeschlossen hatte, und trat ein.
Gwen stand unter der Dusche. Er konnte das Wasser rauschen hören. Als er zur Tür ihres Schlafzimmers ging, rief sie: »Vernon, bist du's?« Trotz des Wasserrauschens in der Dusche klang ihre Stimme mit dem fehlerlosen englischen Akzent, den er so liebte, weich und erregend. Kein Wunder, daß Gwen bei den Passagieren so viel Erfolg hat, dachte er. Er hatte sie vor ihr schmelzen sehen — besonders die Männer —, wenn sie ihren natürlichen Charme spielen ließ.
»Ja, mein Schatz«, rief er zurück.
Ihre duftige Unterwäsche lag auf dem Bett ausgebreitet — Schlüpfer, dünne Nylons und durchsichtiger Büstenhalter, fleischfarben, wie auch der Strumpfhalter aus dem gleichen Material, ein seidener, handgestickter Unterrock aus Frankreich. Gwens Uniform entsprach zwar den Normen, aber für das, was darunter kam, glaubte sie an kostspielige Individualität. Seine Sinne erwachten; widerstrebend wandte er seine Blicke davon ab.
»Ich bin froh, daß du so zeitig kommst«, rief sie wieder. »Ich möchte mit dir etwas besprechen, ehe wir gehen.«
»Aber sicher. Wir haben Zeit.«
»Du kannst Tee machen, wenn du willst.«
»Mach ich.«
Sie hatte ihn zu der englischen Gewohnheit, zu jeder Tageszeit Tee zu trinken, bekehrt, obwohl er kaum je Tee getrunken hatte, solange er Gwen noch nicht kannte. Aber jetzt verlangte er zu Hause oft Tee, was Sarah überraschte, besonders wenn er darauf bestand, daß er richtig zubereitet wurde — erst die Kanne wärmen, wie Gwen es ihn gelehrt hatte, das Wasser, noch in dem Augenblick kochend, wenn es den Tee berührte.
Er ging in die winzige Küche, in der er sich auskannte, und setzte den Wasserkessel auf den Herd. Aus einer Tüte im Kühlschrank goß er Milch in einen Topf, trank selbst etwas von der Milch, ehe er den Karton zurückstellte. Er hätte einen Gin-Tonic bevorzugt, aber wie die meisten Piloten, verzichtete er vierundzwanzig Stunden vor jedem Flug auf jeden Alkohol. Aus Gewohnheit blickte er auf seine Uhr; sie zeigte wenige Minuten vor 20 Uhr. In diesem Augenblick, ging es ihm durch den Kopf, wurde auf dem Flughafen die elegante Langstrecken-Düsenmaschine vom Typ Boeing 707 für den Fünftausend-Meilen-Flug nach Rom für ihn bereit gemacht.
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