Er hörte die Dusche verstummen. In die Stille hinein begann er wieder zu summen. Glücklich. O sole mio.
7
Der tobende, schneidende Wind raste mit unverminderter Heftigkeit über das Flugfeld und trieb den dichtfallenden Schnee mit gleicher Gewalt vor sich her.
Mel Bakersfeld überfiel ein Schaudern, als er wieder in seinem Wagen saß. Er nahm Richtung auf Startbahn Eins-Sieben links, die gerade gefegt wurde, und ließ Startbahn Drei-Null mit der versackten Aereo-Mexican-Maschine hinter sich zurück. Mel fragte sich, ob dieses Schaudern durch die Kälte draußen verursacht worden sei oder nicht vielmehr durch die Erinnerung an die Vorahnung von Unheil, die ihn vor ein paar Minuten gleichzeitig mit der bohrenden Mahnung an seine alte Fußverletzung überkommen hatte.
Diese Verletzung hatte Mel vor der Küste von Korea erlitten, wo er als Marineflieger vom Flugzeugträger Essex aus Kampfeinsätze flog. Während der letzten zwölf Stunden vor jenem Flug (daran erinnerte er sich sogar jetzt noch deutlich) hatte er ein bevorstehendes Unheil geahnt. Es war keine Angst — wie die anderen Ängste, mit denen zu leben er gelernt hatte; nein, eher die feste Überzeugung, daß etwas Schicksalhaftes, womöglich Endgültiges, unerbittlich auf ihn zukam. Am nächsten Tag beim Luftkampf mit einer MIG-15 war Mels Marine F9F-5 dann ins Meer geschickt worden.
Es gelang ihm, die Maschine beim Aufsetzen auf das Wasser in der Hand zu behalten, aber obwohl er selbst unverletzt blieb, wurde sein Fuß durch ein blockiertes Steuerpedal eingeklemmt. Während die Maschine schnell versank — eine F9F-5 hat die Schwimmfähigkeit eines Ziegelsteins —, hatte Mel mit dem Jagdmesser aus der Rettungsausrüstung wild und verzweifelt auf seinen Fuß und das Pedal eingehauen. Irgendwie bekam er den Fuß unter Wasser frei und gelangte mit heftigen Schmerzen und halb ertrunken an die Oberfläche zurück.
Acht Stunden lang trieb er im Wasser, ehe er bewußtlos aufgefischt wurde. Später erfuhr er, daß er die vorderen Sehnen seines Knöchelgelenks durchschnitten hatte, so daß sein Fuß in einer beinahe geraden Linie an seinem Bein hing.
Mit der Zeit hatten die Marineärzte den Fuß wieder hinbekommen, doch seitdem war Mel nicht wieder — als Pilot — geflogen.
Aber in Abständen tauchte der Schmerz immer wieder auf und gemahnte ihn daran, daß schon vor langer Zeit, ebenso wie später bei anderen Gelegenheiten, sein Gefühl für drohendes Unheil recht behalten hatte. Und eine ähnliche Vorahnung hatte ihn auch gerade jetzt wieder überfallen.
Vorsichtig steuerte er seinen Wagen, achtete sorgfältig darauf, bei der herrschenden Dunkelheit und der beschränkten Sicht seine Richtung einzuhalten, und näherte sich nun der Startbahn Eins-Sieben links. Es war die Rollbahn, die, wie der Dienstleiter im Kon-trollturm angekündigt hatte, durch die Flugsicherung freigegeben werden sollte, sobald der Wind sich drehte, was für bald vorausgesagt worden war.
Im Augenblick waren auf dem Flugfeld zwei Startbahnen in Betrieb: Eins-Siebenrechts, und Zwei-Fünf.
Lincoln International besaß insgesamt fünf Startbahnen, die während der vergangenen drei Tage und Nächte bei dem Kampf gegen den Sturm die vorderste Frontlinie gebildet hatten.
Die längste und breiteste war Drei-Null, die jetzt von der Aereo Mexican blockierte Rollbahn. (Bei einer Drehung des Windes und beim Anflug einer Maschine aus entgegengesetzter Richtung wurde sie auch Landebahn Eins-Zwei genannt, denn die Zahlen gaben die Kompaßrichtungen 300 beziehungsweise 120 Grad an.) Diese Rollbahn war nahezu zwei Meilen lang und so breit wie ein kurzer Häuserblock. Auf dem Flughafen ging das Scherzwort um, man könne wegen der Erdkrümmung vom einen Ende aus das andere nicht sehen.
Jede der anderen vier Rollbahnen war um etwa eine halbe Meile kürzer und weniger breit.
Seit Beginn des Schneesturms wurden die meilenlangen Startbahnen ununterbrochen gepflügt, abgesaugt, gefegt und gestreut. Der motorisierte technische Dienst — mit dröhnenden Dieselmotoren im Werte von etlichen Millionen Dollar — hatte jedesmal nur wenige Minuten pausiert, vorwiegend um aufzutanken oder die Besatzungen abzulösen. Es war eine Arbeit, die die Flugreisenden nie aus der Nähe zu sehen bekamen, weil keine Maschine eine frisch gereinigte Rollbahn benutzen durfte, ehe der Boden kontrolliert und für sicher erklärt worden war. Die Maßstäbe waren rigoros. Ein halbes Zoll Matsch oder drei Zoll Pulverschnee waren das für Düsenmaschinen erlaubte Maximum, denn wenn der Boden höher bedeckt war, wurden Matsch oder Schnee von den Motoren eingesaugt und gefährdeten deren Betrieb.
Eigentlich war es bedauerlich, überlegte Mel Bakersfeld, daß das Publikum die Schneeräumkolonnen nie richtig zu Gesicht bekam. Der Anblick war sehenswert und erregend. Selbst bei Sturm und Dunkelheit war es ein imposanter Anblick, wenn man sich dieser Ansammlung von Schneeräummaschinen von hinten näherte. Riesige Schneefontänen schössen in wohl hundertfünfzig Fuß hohem Bogen nach der rechten Seite. Diese Bogen wurden von den Scheinwerfern der Fahrzeuge erfaßt. Sie schimmerten in der bernsteingelben Färbung der über zwanzig rotierenden Warnlichter auf — von denen jedes Fahrzeug der Gruppe eins auf dem Verdeck des Führerhauses trug.
Die Flughafenleute nannten die Gruppe eine Conga-Kette (nach dem kubanischen Tanz, der in einer Reihe getanzt wird). Sie hatte einen Kopf und einen Schwanz, einen Körper, eine Nachhut und zog mit choreographischer Exaktheit die Startbahn hinunter.
Die Spitze bildete der Gruppenführer, ein erfahrener Werkmeister vom Wartungsdienst des Flughafens, der in einem Dienstwagen fuhr — hellgelb wie alle anderen Fahrzeuge der Kette. Der Führer gab das Tempo der Conga-Kette an, das in der Regel schnell war.
Er hatte zwei Sprechfunkgeräte und stand mit der Schneeräumstelle und der Flugsicherung ständig in Verbindung. Durch ein System von Lichtsignalen konnte er die ihm folgenden Fahrer dirigieren — grün hieß »beschleunigen«, gelb »Tempo beibehalten«, dunkelrot »Tempo mäßigen« und hellrot »halt«. Von ihm wurde erwartet, daß er den Lageplan des Flughafens ständig vor Augen hatte und genau wußte, wo er gerade war, selbst in der finstersten Nacht wie jetzt.
Auf den Führer der Gruppe, ihren Antreiber, folgte, gleich dem ersten Geiger in einem Orchester, der Pflug Nr. l — heute abend ein gigantischer Oshkosh mit einer großen Hauptschneeschar vorn und einer Flügelschar an der Seite. Hinter Pflug Nr. l folgte etwas nach rechts abgesetzt Nr. 2. Der erste Pflug schob den Schnee zur Seite, der zweite übernahm die Ladung des ersten, vergrößerte sie um seinen Anteil und schob beide Ladungen weiter zur Seite.
Darauf kam, in Staffelstellung zu den Pflügen und sechshundert brüllende PS stark, eine Schneeschleuder. Eine Schneeschleuder kostet 60 000 Dollar, und sie ist der Cadillac der Schneeräumung. Mit riesigen Gebläsen saugte sie den von den beiden Pflügen aufgetürmten Schnee an und schleuderte ihn in herkulischem Schwung über den Rand der Rollbahn hinaus.
In einer zweiten Staffel folgten, noch weiter nach rechts versetzt, zwei weitere Pflüge und eine zweite Schneeschleuder.
Auf die Pflüge und Schleudern folgten Planierer — fünf in einer Reihe nebeneinander, mit heruntergelassenen Scharen, um etwaige von den vorherfahrenden Pflügen übergangene Schneebuckel fortzuräumen. Die Planierer schleppten rotierende Bürsten, von denen jede sechzehn Fuß breit und selbst mit einem Dieselmotor ausgerüstet war. Wie riesige Stallbesen fegten diese Bürsten die Oberfläche der Startbahn.
Als nächstes kamen die Sandstreuer. Wo die elf Fahrzeuge vor ihnen geräumt und gefegt hatten, streuten drei schwere FDW-Lkws mit Behältern, die vierzehn Kubikfuß faßten, gleichmäßig ihren Sand. Der Sand war etwas Besonderes. Überall sonst in der Umgebung des Flughafens, auf Straßen und dem Publikum zugänglichen Plätzen, wurde dem Sand Salz beigemischt, um das Eis zum Schmelzen zu bringen. Auf aeronautischem Gelände geschah das nie. Salz griff Metall an und verkürzte dessen Lebensdauer, und Flugzeuge wurden mit größerer Hochachtung behandelt als Autos.
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