Schnell richtete Harris die Bremsklappen an den Tragflächen senkrecht auf und stieß den Hebel zur Schubumkehr nach vorn. Mit einem Aufdröhnen der Motoren wurde die Schubwirkung in entgegengesetzter Richtung wirksam, sie wurde jetzt zur Bremse, stemmte sich der Richtung, in der das Flugzeug rollte, entgegen.
Sie hatten drei Viertel der Landebahn hinter sich und wurden langsamer, aber nicht schnell genug.
Harris rief: »Ruder rechts!« Das Flugzeug schwankte nach links. Mit vereinten Kräften hielten Demerest und Harris die gerade Richtung bei. Aber das vor ihnen liegende Ende — mit aufgehäuftem Schnee und einer Höhle der Dunkelheit dahinter — kam schnell näher.
Anson Harris trat hart auf die Fußbremse. Metall knirschte unter der Anspannung. Gummi kreischte. Die Dunkelheit kam immer noch näher. Dann wurden sie langsamer — mehr und mehr — noch mehr . . .
Drei Fuß vom Ende der Landebahn entfernt kam Flug Zwei zum Stehen.
17
Auf der Uhr im Radarraum konnte Keith Bakersfeld sehen, daß seine Schicht noch eine halbe Stunde dauerte. Es war ihm gleichgültig.
Er schob seinen Stuhl vom Radarpult zurück, zog die Stöpsel zu seinem Kopfhörer heraus und stand auf. Er sah sich in dem Raum um und wußte, daß es zum letztenmal war.
»He!« rief Wayne Tevis ihn an. »Was ist los?«
»Hier«, antwortete ihm Keith. »Nehmen Sie das. Vielleicht braucht jemand anderes es noch.« Er drückte Tevis den Kopfhörer in die Hände und ging hinaus.
Keith wußte, daß er das schon vor Jahren hätte tun sollen.
Er spürte eine seltsame Leichtigkeit in seinem Kopf, fast so etwas wie Erlösung. Draußen im Gang fragte er sich verwundert, warum.
Es kam nicht davon, daß er Flug Zwei hereingeleitet hatte. Darüber machte er sich keine Illusionen. Keith hatte gute Arbeit geleistet, aber jeder andere in der Schicht hätte es ebensogut gekonnt, oder besser. Auch konnte nichts — wie er im voraus gewußt hatte —, nichts, was in dieser Nacht geschehen war, das, was sich vorher ereignet hatte, auslöschen oder ein Gegengewicht dazu bilden.
Es spielte auch keine Rolle, daß er sein geistiges Aussetzen von vor zehn Minuten überwunden hatte. In diesem Augenblick war Keith alles gleichgültig gewesen. Er wollte nur hinaus. Nichts, was seither geschehen war, konnte seine Absicht ändern.
Vielleicht war sein plötzlicher Wutanfall von vor einigen Minuten eine Katharsis gewesen, in dem Eingeständnis, das er sich nicht einmal selbst gegenüber in seinen geheimsten Gedanken gemacht hatte, wie sehr er die Luftfahrt haßte und immer gehaßt hatte. Jetzt, fünfzehn Jahre zu spät, wünschte er, er hätte sich diese Tatsache früher eingestanden.
Er trat in den Garderobenraum der Kontroller mit den hölzernen Bänken und dem überladenen Anschlagbrett. Keith öffnete seinen Spind und zog Jacke und Mantel an. Im Fach des Spinds befanden sich ein paar persönliche Dinge. Er ignorierte sie. Er wollte nur die Farbaufnahme von Natalie. Behutsam löste er sie von der Innen- seite der Metalltür . . . Natalie in einem Bikini, lachend, ihr freches, koboldhaftes Gesicht und ihre Sommersprossen, ihr im Wind wehendes Haar . . . Als er das Bild betrachtete, hätte er am liebsten geweint. Hinter dem Foto steckte der Zettel von ihr, den er gehütet hatte:
»Ich bin froh darüber, daß wir unseren Anteil noch mit Liebe und Leidenschaft bekommen haben.«
Keith steckte beides ein. Das übrige konnte jemand anderes ausräumen. Er wollte nichts, was ihn an diesen Ort erinnerte, je wiedersehen.
Er hielt inne.
Er stand da und erkannte, daß er ohne jede Absicht zu einem neuen Entschluß gekommen war. Er war sich nicht sicher, was dieser Entschluß alles mit sich brachte oder wie er ihm morgen erscheinen würde oder auch nur, ob er darüber hinaus mit diesem Entschluß leben konnte. Wenn er nicht damit leben konnte, blieb immer noch ein Fluchtweg; ein Weg, der hinausführte: die Pillenschachtel in seiner Tasche.
Denn heute nacht war die Hauptsache: Er ging nicht in die O'Hagan Inn. Er ging nach Hause.
Dennoch wußte er eines. Wenn es für ihn eine Zukunft geben sollte, mußte sie von der Luftfahrt weit weg sein. Wie andere, die vor ihm die Arbeit in der Flugsicherung aufgegeben hatten, feststellen mußten, konnte sich das als das Allerschwerste von allem erweisen.
Und selbst wenn diese Schwierigkeit überwunden werden konnte sei dir jetzt darüber klar, sagte Keith zu sich selbst — würde es Gelegenheiten geben, bei denen er an die Vergangenheit erinnert wurde. An Lincoln International erinnert, an Leesburg, an das, was an beiden Orten geschehen war. Und konnte man auch sonst allem entkommen, wenn man einen gesunden Verstand besaß — es gab kein Entrinnen vor der Erinnerung. Die Erinnerung an die Familie Redfern, die gestorben war — an die kleine Valerie Redfern —, würde ihn nie verlassen.
Aber das Gedächtnis konnte sich anpassen — oder etwa nicht? — an die Zeit, an die Umstände, an die Realität, daß man hier und jetzt lebte. Die Redferns waren tot. In der Bibel hieß es: »Laßt die Toten ihre Toten begraben.« Was geschehen war, war geschehen.
Keith fragte sich, ob er — von jetzt an — mit Trauer an die Redferns denken, aber sich auch das Leben — Natalie, seine eigenen Kinder — zur ersten Aufgabe setzen könne.
Er war nicht sicher, ob es ihm gelingen würde. Er war nicht sicher, ob er die moralische oder die physische Kraft dazu besaß. Aber er konnte es versuchen.
Er nahm den Fahrstuhl im Kontrollturm nach unten.
Draußen blieb er auf dem Weg zum Parkplatz für das Flughafenpersonal stehen. Er folgte einem plötzlichen Impuls, wußte, daß er es später vielleicht bedauern würde, und nahm die Pillenschachtel aus der Tasche und leerte ihren Inhalt in den Schnee.
18
Mel Bakersfeld konnte aus seinem Wagen, mit dem er auf dem nahen Taxiweg parkte, nachdem er Landebahn Drei-Null verlassen hatte, sehen, daß die Piloten von Flug Zwei der Trans America keine Zeit verschwendeten und direkt zum Flughafengebäude rollten. Die Lichter des Flugzeugs, das jetzt das Flugfeld halb hinter sich hatte, waren noch sichtbar und bewegten sich schnell. Über sein auf die Bodenkontrolle eingestelltes Funkgerät konnte er hören, daß andere Flüge auf Taxibahnen und vor den Kreuzungen zu der Landebahn angehalten worden waren, um die beschädigte Maschine vorbeizulassen. Noch waren Verletzte an Bord. Flug Zwei war angewiesen worden, sofort zu Ausgang siebenundvierzig zu rollen, wo ärztliche Hilfe, Krankenwagen und Personal der Fluggesellschaft warteten.
Mel sah die Lichter der Maschine schwächer werden und im Strahlenglanz der vielen Lampen des dahinterliegenden Flughafens untergehen.
Die Rettungsfahrzeuge des Flughafens, die schließlich doch nicht benötigt worden waren, zerstreuten sich aus dem Gebiet der Landebahn.
Tanya und der Reporter Tomlinson von der Tribune waren auf dem Weg zurück zum Flughafengebäude. Sie fuhren mit Joe Patroni, der die 707 der Aereo Mexican jemand anders übergeben hatte, um sie zu den Hangars zu rollen.
Tanya wollte zum Aussteigen der Passagiere von Flug Zwei an Ausgang siebenundvierzig sein. Wahrscheinlich würde sie gebraucht werden.
Ehe sie gegangen war, hatte sie Mel leise gefragt: »Kommen Sie noch nach Hause?«
»Wenn es nicht zu spät ist, gern«, hatte er geantwortet.
Er sah Tanya an, die sich eine rote Haarsträhne aus dem Gesicht strich. Sie hatte ihn mit ihren offenen, klaren Augen angeblickt und gelächelt. »Es ist nicht zu spät.«
Sie vereinbarten, sich in einer dreiviertel Stunde am Haupteingang des Flughafengebäudes zu treffen.
Tomlinson beabsichtigte, Joe Patroni und danach die Besatzung von Flug Zwei der Trans America zu interviewen. Die Besatzung und zweifellos auch Patroni würden innerhalb weniger Stunden Helden sein. Mel nahm an, daß die dramatische Geschichte der Gefährdung und der Erhaltung des Flugzeugs seine eigenen Bekundungen über die nüchternen Probleme und Mängel des Flughafens überschatten würden.
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