Wieder keine Antwort.
»Mist. Die Mauern stören wahrscheinlich.«
»Die Sonde hat vor dem Aufprall noch gesendet. Da haben die Mauern auch nicht gestört«, wandte Serena ein. »Vielleicht ist eure Basis ja verschwunden. Vielleicht hat der Schneesturm sie begraben.«
»Also wirklich, Schwester Serghetti«, sagte Yeats entrüstet.
»Doktor Serghetti«, verbesserte sie ihn.
»Hören Sie mal zu, Doktor Serghetti. Es handelt sich hier um einen Funkausfall, wahrscheinlich wegen des Polarsturms. Das ist alles. Bei dem Wetter warten wir lieber hier ab. In der Zwischenzeit machen wir ganz normal weiter. Lopez, Marcus, Kreigel!«
Die drei Offiziere meldeten sich. »Ja, Sir!«
»Errichtet in der Kammer einen Kommando- und Versorgungsposten. Das Habitat ist womöglich nicht stabil genug. Bringt alles Notwendige hier runter.« Yeats legte Conrad die Hand auf die Schulter. »In der Basis hast du von vier Schächten in der Pyramide gesprochen.«
»Ja, vermutlich sind die anderen beiden, wenn es sie überhaupt gibt, in einer tiefer gelegenen Kammer. Wenn wir sicher sein wollen, sollten wir uns auf die Suche machen.«
»Sicher worüber?«, fragte Serena.
»Das weiß ich erst, wenn wir da sind«, sagte Conrad knapp.
»Und wie sollen wir da hinkommen?«
»Durch die Tür.«
»Welche Tür?«, fragte Yeats.
»Die da.«
Yeats beobachtete, wie Conrad sich dem Schacht, aus dem sie gekommen waren, zuwandte und dann die Wand rechts davon mit seiner Taschenlampe ableuchtete. Zu Yeats' großem Erstaunen befand sich in der Ecke ein offener Durchgang.
»Der war vorher nicht da«, sagte Serena mit heiserer Stimme.
»Doch«, erwiderte Conrad. »Er war die ganze Zeit da.«
Wieder einmal musste Yeats Conrads' Gefühl für Raum und Maß anerkennen. Es würde ihn nicht wundern, wenn Conrad schon einen Plan vom Inneren der Pyramide im Kopf hatte.
»Und ich sage dir, er war noch nicht da«, beharrte Serena.
»Und ich behaupte, dass du ihn übersehen hast«, sagte Conrad. »Beruhige dich, okay?«
»Na schön.« Sie machte einen Schritt auf den Durchgang zu. »Worauf warten wir dann noch?«
Yeats hielt sie am Arm zurück. »Sie warten hier, während Conrad und ich die beiden anderen Schächte suchen.«
In Serenas Augen sah Yeats Wut aufblitzen. Sie hatte offensichtlich ein Problem damit, Befehle erteilt zu kriegen. Kein Wunder, dass sie den Vatikan ständig nervte. Sie drückte gegen seinen Arm auf den Durchgang zu, aber Conrad hielt sie an der Schulter fest und zog sie zurück.
»Nur mit der Ruhe, Serena. Sobald wir die anderen Schächte gefunden haben, holen wir dich.«
Das werden wir ja sehen, dachte Yeats. Er sagte jedoch: »Natürlich holen wir Sie. Sobald wir was finden.«
»Versprochen«, fügte Conrad mit ernster Miene hinzu.
Yeats passte das gar nicht. Conrad hatte einfach nicht das Recht, irgendwelche Versprechungen zu machen.
Yeats konnte aus Serenas Gesichtsausdruck ganz klar schließen, dass sie Conrad keine Sekunde lang glaubte. »Also gut«, sagte sie, »dann geht mal los.«
Yeats gab Marcus und Kreigel mit dem Kopf ein Zeichen, worauf sich die beiden am Durchgang postierten. Yeats folgte Conrad aus der Kammer in den niedrigen viereckigen Tunnel, der weiter nach unten führte.
***
Während sie im Dunkeln weitergingen, ärgerte sich Yeats über seine Fehlentscheidung, Mutter Erde im Team mitmachen zu lassen. Nicht, weil etwas mit ihr nicht stimmte, sondern weil in ihrer Gegenwart offensichtlich mit Conrad was nicht stimmte.
Etwas Abstand, so hoffte Yeats, würde den Kopf des Jungen wieder klar machen.
Diese Strategie machte sich schon ein paar Minuten später bezahlt, als sie eine feste, waagerechte Plattform erreichten. Sie sah wie ein Altar aus. Conrad blieb stehen.
»Was ist das?«, wollte Yeats wissen.
»Die Plattform befindet sich genau auf der Ost-West-Achse der Pyramide«, erklärte Conrad. »Sie markiert den Übergangspunkt zwischen der Nord- und der Südhälfte des Gebäudes.«
»Und?« Yeats wollte gerade noch einen Schritt nach vorn machen, aber da packte Conrad ihn am Arm. Der Griff war stärker, als Yeats vermutet hätte.
»Sieh mal.« Conrad richtete seine Taschenlampe in die Dunkelheit und erleuchtete einen riesigen Tunnel, der in die Erdmitte hinabführte. In der Mitte des glänzenden Bodens war eine etwa zwölf Meter breite und sechs Meter tiefe Wasserrinne eingelassen. Sie spiegelte die Konstruktion der gewölbten Decke, die am höchsten Punkt hundert Meter hoch war. »Mein Gott!« Yeats trat von der Kante zurück. »Du kennst dich hier verdammt gut aus, Junge. Bist du dir sicher, dass du nicht schon mal hier warst?«
»Nur in meinen Träumen.«
»Sieht mir eher wie ein Albtraum aus«, sagte Yeats, als er über die Kante schielte. »Wo führt das hin?«
»Es gibt nur eine Möglichkeit, das rauszufinden.« Conrad löste das Seil von seinem Rucksack. »Die Neigung beträgt ungefähr 26 Grad, und der Untergrund ist sehr glitschig. Wir müssen uns anseilen. Bleib dicht an der Mauer, damit du nicht in den Kanal rutschst.«
Nach ungefähr dreihundert Metern Abstieg verlor Yeats jegliches Orientierungsvermögen. Solch ein Schwindelgefühl beschlich ihn manchmal auch in der Eisstation Orion. Er wusste dann nicht mehr, was oben oder unten war, ob es abwärts oder hinaufging. Yeats rieb sich die Augen, die vom kalten, salzigen Schweiß schmerzten, und ging weiter den großen Gang hinab.
»Du hast Serena doch nicht nur als Beobachterin mitgenommen, oder etwa doch?«, sagte Conrad auf einmal.
Yeats spürte, dass Conrad die Nonne vermisste. Du meine Güte, dachte er, wir haben sie doch gerade erst zurückgelassen. »Um Gottes willen, nein!«, sagte Yeats. »Ich will herauskriegen, was sie alles weiß. Was auf jeden Fall mehr sein dürfte, als sie zugibt.«
»Warum bist du so misstrauisch?«
»Das gehört zu meinem Job.«
»Irgendwie finde ich, dass Serena nicht allein bleiben sollte.«
»Drei gute Offiziere bewachen sie.«
»Ich finde, wir hätten sie mitnehmen können.«
»Auf keinen Fall. Und jetzt kannst du mir auch verraten, was du in Gegenwart der guten Schwester nicht sagen konntest. Zum Beispiel das, was du wirklich denkst.«
Conrad lockerte den Griff ums Seil, und Yeats stellte fest, dass jetzt die Schwerkraft Conrad weiter in den Tunnel gleiten ließ. Yeats folgte unmittelbar hinter ihm.
»Wahrscheinlich ist da gar nichts dahinter«, sagte Conrad. »Reiner Zufall.«
»So was gibt's hier nicht«, antwortete Yeats. »Also, schieß los.«
»Schau dich mal um.« Conrad deutete mit der Hand in den gewaltigen schimmernden Gang. »Hier und in der ganzen Pyramide gibt es keinerlei Inschriften, keine religiösen Zeichen oder sonstige Symbole.«
»Und?«
»Das heißt, dass es sich nicht um eine Grabstätte handelt. Sie ist noch nicht mal ein Rätsel für Eingeweihte, das man auf irgendeine Weise zu lösen hat, wie ich das vorhin angedeutet habe.«
»Was zum Teufel ist es dann?«
»Irgendwie habe ich das Gefühl, als wären wir in einer großen Maschine.«
Yeats verspürte tief in den Eingeweiden einen verstörenden Ruck. Die Neuigkeit kam wie eine Prophezeiung, einerseits halbwegs erwartet, andererseits beunruhigend. »Maschine?«
»Eine Maschine, die einem ganz bestimmten Zweck dienen soll.«
Ein bedrückendes Gefühl lag in der Luft. Yeats räusperte sich. »Welchem denn?«
»Ich weiß nicht. Vielleicht hat die Erbauer eine Katastrophe eingeholt, bevor sie die Maschine starten konnten.«
»Gut möglich.«
»Vielleicht hat diese Maschine das Unheil aber auch erst herbeigeführt.«
Yeats nickte bedächtig mit dem Kopf, während er das Gesagte auf sich wirken ließ. Er hatte es irgendwie schon die ganze Zeit gespürt. Er wollte Conrad mehr darüber erzählen. Aber jetzt war nicht der richtige Augenblick dazu. Conrad würde es hoffentlich auch allein herausfinden.
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