Conrad rührte sich nicht. Er merkte, wie Lopez ihn interessiert anstarrte. Kreigel und Markus auch. Die beiden Soldaten schienen geradezu erpicht darauf zu sein, dass die gute Nonne dem bösen Archäologen das Knie in die Eier rammte.
Die Luke öffnete sich, und zusammen mit eisiger Zugluft kehrte Yeats in die Kapsel zurück.
»Du hast Recht behalten«, sagte Conrad kühl zu seinem Vater. »Ihr geht es wieder gut.«
»Prima. Macht euch jetzt bereit. Wir steigen in die P4. Die Bohrmannschaft hat soeben den Schacht gefunden!«
Abstieg, 4. Stunde 13 Erste Kammer
Der Schacht war ungefähr zwei Meter breit und zwei Meter hoch, schätzte Serena und neigte sich in die Finsternis. Die Auslosung mittels einer Münze hatte Serena die Ehre verschafft, als Erste hineingehen zu dürfen, nachdem die Bohrmannschaft den umgerüsteten sechsrädrigen Marsrover mit einer Lötlampe und einer Kamera den Schacht hinuntergelassen hatte. Der fernbediente Roboter hatte Conrads Vermutung bestätigt: Der Schacht führte direkt in eine Kammer inmitten der P4.
Als Serena an dem Geländer stand, das die Amerikaner entlang der Nordseite der P4 errichtet hatten, und in die Schachtöffnung blickte, spürte sie heftiges Herzklopfen. Sie war immer noch von dem Anblick des kleinen Mädchens im Eis verstört, ganz zu schweigen von der Tatsache, dass eine ganze Kultur auf einen Schlag vernichtet worden war. Wenn dem Kind nur nicht diese entsetzliche Angst in den Augen gestanden hätte!
Sie hatte immer Trost bei der Vorstellung gefunden, dass die Schöpfungsgeschichte nur ein Mythos und die Sintflut nur ein theologisches Bildnis war. Zugegeben, viele fossile Funde wiesen auf eine Weltkatastrophe natürlichen Ursprungs hin. Nun ja, sie hegte kaum Zweifel daran, dass es eine weltweite Überschwemmung gegeben hatte. Aber war diese wirklich die Strafe Gottes für die Schlechtigkeit der Menschen gewesen? Moses hatte das so interpretiert. Blöderweise fand sie andere Sichtweisen über die Welt – wie zum Beispiel die, dass zyklische Naturkatastrophen ganze Völker einfach willkürlich ausgelöscht hatten – noch beunruhigender, vor allem, weil sie ihrer aufrechten Entrüstung jeglichen Sinn nahmen.
Möglicherweise hatte es auch etwas mit ihrer Kindheit zu tun, wie der Heilige Vater gemeint hatte. Sie hatte sich als Kind wiedergesehen, als unschuldiges Opfer, eingeschlossen im Eis, in die Zeit eingefroren wie Teile ihrer Persönlichkeit auch. Vielleicht war es auch nur das Scheitern ihres Glaubens, der ihr keinen echten Trost mehr für das unerklärlich Böse und das ganze Elend dieser Welt geben konnte. Als ob der Teufel selbst einen Schutzengel hätte – Gott. Unter dieser Voraussetzung gab es keinen Unterschied mehr zwischen Satan und Gott, ein Gedanke, den Serena gar nicht erst aufkommen lassen wollte.
Conrad unterbrach ihre tiefgründigen Gedanken.
»Serena, wenn du willst, kann ich immer noch die Führung übernehmen.«
Sie blickte Conrad über die Schulter an und runzelte die Stirn. Jetzt, wo er den Zugang zur Pyramide gefunden hatte, tat er ziemlich großspurig. Seine Augen besagten, dass er auch dieses Mal, wie immer, Recht behalten hatte. Nicht nur was die P4 anging, sondern überhaupt, auch was sie betraf. Als könnte er sie im Laufe der Zeit wie irgendein archäologisches Rätsel entschlüsseln.
Wut stieg in ihr hoch. »Du kannst also auch vorzeitliche Inschriften aus dem Jenseits übersetzen?«
»Die Schrift ist nur eine von vielen Arten der Kommunikation, Schwester Serghetti, wie du nur allzu gut weißt«, erwiderte Conrad.
Sie hasste dieses akademische Geschwätz, wahrscheinlich weil sie oft selbst so redete. Vielleicht aber auch, weil es – wie ihr Gespräch in der Raumkapsel – die Vertrautheit leugnete, die sie während des Abstiegs ins Eis aufgebaut hatten.
»Außerdem«, fügte Conrad noch hinzu, »glaube ich nicht, dass wir auf Inschriften stoßen werden.«
»Und woher willst du das wissen?«
»Einfach so eine Ahnung.« Conrad strich mit der Hand über die glänzende weiße Oberfläche der Pyramide. »Schau dir die verzahnten Steine der Verkleidung an, die die ganze Konstruktion schützen.«
Falls es feine Furchen gab, konnte sie diese wegen des reflektierenden Lichtes nicht sehen. »Wie kommt es, dass die Pyramiden, die wir aus Ägypten kennen, nicht so glänzen?«
»Im Mittelalter wurde die Ummantelung abgerissen, um Moscheen daraus zu bauen«, erklärte Conrad. »Die Pyramiden wurden sozusagen zu billigen Steinbrüchen. Fühl mal.«
Serena ließ ihre behandschuhte Hand über die Oberfläche gleiten. Der Stein fühlte sich wie Glas an. »Eine Art Erz?«
Conrad lächelte. »Du hast es gleich gemerkt. Kein Wunder, dass die Echolotung die Pyramide nicht aufspüren konnte. Du hattest Recht, Yeats. Das Zeug ist glatter als ein Tarnkappenbomber.«
»Und härter als Diamant«, fügte Yeats aus dem Hintergrund ungeduldig hinzu. »Hat bei der Suche nach dem Schacht die ganzen Bohrmaschinen kaputtgemacht. Wir wissen noch nicht, was es ist. Können wir jetzt vielleicht mal weitergehen?«
»Oreichalkos«, sagte Conrad. Seine Stimme hallte von den Schachtwänden wider.
»Was sagst du da?«, fragte Serena.
»Platon erwähnte, dass die Bewohner von Atlantis Oreichalkos verwendeten. So heißt das rätselhafte Erz, das ›glänzende Metall‹«, sagte Conrad. »Ein reines Erz, ein fast übernatürliches ›Bergkupfer‹. Es funkelt wie Feuer und wurde für Wandverkleidungen verwendet – und für Inschriften. Ich gehe jede Wette ein, dass ein Großteil der Außenwand aus diesem Zeug besteht.«
Conrad schien die Weisheit gepachtet zu haben. »Du glaubst wohl, alles zu wissen, wie?«, sagte Serena.
»Das wird sich erweisen, wenn wir drin waren.«
»Und wenn die Erbauer für unbefugte Eindringlinge eine Falle gestellt haben?«, fragte sie.
»Die Erbauer haben bestimmt nie beabsichtigt, durch diesen Schacht von oben her hineinzukommen. Wenn überhaupt, dann sind die Fallen unten in der P4 und in den Gängen, die nach oben zu den wichtigen Kammern führen.«
Serena sah über Conrads Schulter hinweg Yeats an, der die Stirn entweder aus Besorgnis oder – was weitaus wahrscheinlicher war – aus Ungeduld runzelte. Lopez, Kreigel und Marcus, die neben ihm standen, blickten so steinern drein wie zuvor.
»Dann machen wir uns am besten mal auf den Weg«, sagte Serena und trat in den Schacht.
***
Wie sich bald herausstellte, sollte Conrad mit dem Oreichalkos Recht behalten. Kaum betrat man den Schacht, änderte sich bereits die Wandoberfläche und wurde rauer. Sie bestand aus einem dunkleren Gestein oder Metall. Serena kletterte tiefer in den Schacht und hielt das Seil dabei straff. Das Licht ihrer Stirnlampe drang nur etwa zwanzig Meter tief in die Dunkelheit.
»Wie geht's da unten?« Im Schacht klang Yeats' Stimme flach und blechern.
»Prima«, antwortete sie.
Aber sie fühlte sich gar nicht so. Die Luft war drückend und stickig. Die feuchten Wände schienen sich über ihr immer mehr zu schließen, je weiter sie den 38 Grad geneigten Schacht hinunterkroch. Sie spürte ein Kribbeln im Rücken, das langsam die Wirbelsäule hinaufstieg.
Zwanzig Minuten später tauchten sie aus dem Schacht in einen saalartigen rötlichen Raum, der bei aller Düsternis ungeheure Wärme und Kraft ausstrahlte. Er war völlig leer.
»Hier ist nichts, Conrad.« Ihre Stimme hallte wider. »Keine Inschriften. Nichts.«
»Sei dir da mal nicht so sicher.«
Sie drehte sich um und sah, wie Conrad sich an der Wand, aus der der Schacht kam, abseilte, gefolgt von Yeats und seinen drei Untergebenen.
Conrad suchte den Raum mit seinem Scheinwerfer ab. Boden, Decken und Wände bestanden aus riesigen Steinquadern, die wie Granit aussahen. Der Raum war größer als ein Fußballfeld; Serena schätzte die Höhe auf sechzig Meter. Trotzdem hatte sie das Gefühl, die Wände würden sie erdrücken.
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