»Conrad, es ist September«, sagte Yeats trocken.
»Für uns aus dem Norden«, sagte Serena. »Hier auf der südlichen Hemisphäre ist jetzt Frühling.« Sie wandte sich an Conrad: »Was bedeutet das alles?«
»Nun, von einem Fixpunkt auf der Erde aus gesehen, ist der Sternenhimmel wie der Kilometerzähler eines Autos. Die Sternbilderbeschreiben alle 26.000 Jahre einen vollständigen Zyklus«, erklärte er. »Das heißt, dass die Pyramide entweder vor 26.000 Jahren gebaut wurde, während des letzten Wassermannzeitalters. Oder …«
»Oder was?«
»Oder sie wurde gebaut, um zu einer bestimmten Zeit in der Zukunft mit den Sternen übereinzustimmen.« Er sah ihr in die Augen, und wieder spürte sie jenes Kribbeln. »In diesem Augenblick, genau jetzt.«
Abstieg, 5. Stunde 14 Eisstation Orion
Oben in der Eisstation Orion lag O'Dell auf seiner Pritsche, hörte Chopin und wartete darauf, dass sich Yeats und seine Mannschaft meldeten, als plötzlich die Wände zu wackeln anfingen und die Sirene losheulte.
Nur allzu oft wurde die tägliche Monotonie in der Basis durch eine Simulation, eine Notübung, unterbrochen. Dann ging die Sirene los, und die Crew rannte auf ihre Posten in der Kommandozentrale, wo sich die Warnleuchten und die Diagnose-Computer befanden. Wenn SIM auf der Tafel aufleuchtete, war das für die Mannschaft das Zeichen dafür, dass es sich um keinen echten Alarm handelte.
Aber da O'Dell die SIMs immer selbst anordnete – und diese hatte er nun einmal nicht angeordnet –, war ihm sofort klar, dass das SIM-Licht nicht aufblitzen würde. Er spürte, wie sein Puls schneller schlug und das Adrenalin hochschoss. Er raste aus dem Offizierszimmer hinaus und lief zur Kommandokapsel. Die Crew hatte sich schon um den zentralen Monitor geschart.
»Die äußere Absperrung ist durchbrochen worden, Sir«, sagte der Dienst habende Lieutenant. »In Sektor vier.«
O'Dell blickte auf das vom Schneegestöber körnige Bild. Ein riesiges graues Objekt tauchte im Nebel auf. »Die Russen«, fluchte er, als er das Charkowtschanka-Kettenfahrzeug erkannte.
»Sektor drei durchbrochen«, rief ein anderer Offizier.
»Sektor zwei durchbrochen, Sir!«, sagte ein weiterer.
»Sektor eins!«
»Sektor drei!«
O'Dell sah es auf sämtlichen Bildschirmen: überall Charkowtschankas. Die Russen hatten die Eisstation umstellt. Er stand wie angewurzelt da. Langsam wurde ihm der Ernst der Situation bewusst. Jemand klopfte ihm auf die Schulter.
»Sir?«
O'Dell drehte sich um und sah den Funker vor sich. Er blinzelte. Die Lippen des Offiziers bewegten sich, aber O'Dell konnte nichts hören. »Was?«
»Ich habe gesagt, die Russen haben Kontakt aufgenommen, Sir. Wollen Sie antworten?«
O'Dell holte tief Luft. »Können wir General Yeats erreichen?«
»Seit die Gruppe in der P4 ist, haben wir den Kontakt mit ihr verloren.«
Bevor O'Dell antworten konnte, kam eine Stimme aus der Sprechanlage an der östlichen Luftschleuse. »Iwans am Tor!« O'Dell vernahm, wie die Russen mit Gegenständen, die sich wie die Kolben ihrer Kalaschnikows anhörten, an die Tür schlugen. Er stieß einen Seufzer aus und wandte sich wieder dem Funkoffizier zu. »Sagen Sie den Russen, dass sie an der Ostschleuse ein Empfangskomitee erwartet.«
»Ja, Sir.«
»Und in der Zwischenzeit werden wir hier, so gut es geht, Klarschiff machen.«
O'Dell marschierte aus der Kommandozentrale in das Gewirr der Styroporgänge mit den hellen Panzerglasscheiben links und rechts. Ein Blick hinaus auf die Ansammlung von zylinderförmigen Kapseln und Traglufthallen sagte ihm, dass es unmöglich war, die Arbeit seiner Mannschaft zu verstecken.
Er durchschritt eine Luftschleuse zu einer Kapsel, wo die Klänge von Mozarts Sinfonie immer lauter wurden. Er ging an einer Putzmannschaft vor dem Labor vorbei, in dem sich der Benben-Stein befand. Die Doppeltür mit der Aufschrift nur für personal war hinter einem Tarnfenster verschwunden, das praktischerweise auch noch beschlagen war. Er konnte nur hoffen, dass die Russen nicht so genau hinsahen. Aber wahrscheinlich war das zu viel verlangt. Genau wie seine Hoffnung, dass sie auf wundersame Weise die Dosimeter übersehen würden, die sich auf verschiedenen Schalttafeln befanden und die Strahlung des Atomreaktors auf der Basis maßen. Allein das würde ausreichen, um seiner Karriere ein für alle Mal ein Ende zu setzen, wurde O'Dell klar. Yeats würde ihn umbringen.
Zwei unbewaffnete Militärpolizisten der Navy warteten an der Luftschleuse auf ihn. O'Dell gab ihnen mit dem Kopf ein Zeichen, worauf sich die schwere Innentür langsam öffnete. Die eisige Luft raubte ihm den Atem. Zwei Männer – der eine korpulent und gedrungen, der andere groß und dünn – stapften herein. Der kleinere nahm die Kapuze ab, und O'Dell blickte auf das hässlichste rotgeschwollene Gesicht, das er jemals gesehen hatte.
»Ich bin Oberst Iwan Kowitsch«, sagte er triumphierend. Sein Englisch wies einen starken russischen Akzent auf. »Ich würde sagen, Sie befinden sich in großen Schwierigkeiten. Sehr großen Schwierigkeiten.«
Noch bevor O'Dell antworten konnte, dass die Eisstation Orion lediglich eine harmlose Forschungsstation sei, bekam Kowitsch einen heftigen Hustenanfall. Der schlaksige Begleiter klopfte seinem Vorgesetzten auf den Rücken, bis dieser ihn wegwinkte.
»Lies vor, Wlad«, befahl ihm Kowitsch und stellte ihn beiläufig vor: »Das ist Wladimir Lenin, Ururenkel von dem großen Lenin.«
O'Dell schaute interessiert zu, wie der junge Offizier einen verknüllten Zettel aus seinem Parka zog und ihn dann glatt strich. Offensichtlich war dieser Herr Lenin in den Rängen nicht ganz so weit aufgestiegen wie sein Vorfahre. In gebrochenem Englisch sagte er: »Sie haben verletzt Artikel eins internationalen Antarktisvertrag. Militär verboten. Vertrag gibt Recht für uns, Basis zu inspizieren.«
Der junge Lenin blickte zu Kowitsch. Als dieser nickte, steckte er das Papier wieder weg.
Kowitsch wandte sich an O'Dell. »Fragen?«
»Wie viele von euch kommen noch?«
»Genau so viele Russen wie ihr Amerikaner auf der Basis seid, einschließlich derer, die sich unten in der Schlucht befinden«, sagte Kowitsch.
»Was ist mit Oberst Zawas und seiner Mannschaft?«
»Ich hatte gehofft, Sie können uns das sagen. Wir haben nämlich nichts mehr von seiner Einsatzmannschaft gehört. Sie scheint sich in Luft aufgelöst zu haben.«
15 Abstieg, 5. Stunde
In der Kammer war es mucksmäuschenstill. Yeats sah Conrad an und merkte an dessen Gesichtsausdruck, dass mit den Berechnungen etwas ganz schrecklich schief gelaufen war. Der Nonne war das wohl auch nicht entgangen.
»Besteht die Möglichkeit, dass du …«
»Irrtum ausgeschlossen«, sagte Conrad. »Der Südschacht, von dem wir wissen, dass er vor mindestens 12.000 Jahren errichtet wurde, ist so gebaut, dass er sich auf Sirius richtet, so wie der Stern exakt heute am Firmament steht. Entsprechend zeigt der Nordschacht auf Al Nitak, den mittleren Stern im Orion-Gürtel.«
Das konnte noch nicht alles sein, so viel war Yeats klar, aber Conrad schwieg, und Yeats wusste warum. Auch Serena beobachtete Conrad eingehend.
»Selbst wenn du mit den astronomischen Zuordnungen Recht hast, warum findet das Ganze ausgerechnet jetzt statt?«, wollte sie wissen. »Glaubst du, dass die P4 was mit den jüngsten Erdbeben zu tun hat?«
Zu Yeats' Erleichterung gab Conrad keine Antwort darauf.
»Wir sollten die Eisstation Orion verständigen, bevor wir weitermachen.« Yeats nahm sein Funkgerät und stellte die Frequenz ein. »Eisstation Orion, hier ist Team Phönix.«
Keine Antwort. Nur ein Zischen und Knacken.
»Eisstation Orion«, sagte Yeats noch einmal. »Versteht ihr mich?«
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