Yeats pfiff leise. »Da haben wir ja endlich die Inschriften für Mutter Erde.«
»Nicht unbedingt.« Conrad atmete schwer. Ein Teil in ihm wollte zurücklaufen und sie holen. Ein anderer Teil weigerte sich zuzugeben, dass er das nicht allein entziffern konnte. »Eine Ikone oder ein Symbol.«
»Dann kannst du also auch sagen, was das bedeutet?«
»Dafür krieg ich ja die dicke Kohle.«
Conrad ging in die Raummitte. In der ovalen Kartusche war eine Hieroglyphe eingeritzt, die er schon einmal gesehen hatte. Sie stellte einen Gott oder König dar, der in einer Art mechanischer Vorrichtung saß. Er sah wie ein bärtiger Weißhäutiger aus und trug eine kunstvolle Verzierung auf dem Kopf, eine Atef-Krone. Und er hielt so etwas Ähnliches wie ein Zepter in der Hand. Es sah wie ein kleiner Obelisk aus.
»Diese Figur kommt mir irgendwie bekannt vor«, hörte Conrad sich sagen. »Aber ich komm nicht drauf.«
Conrad betrachtete weiterhin die Kartusche. Das eingravierte Bild glich den symbolischen Darstellungen der Götter Huiracocha in den Anden und Quetzalcoatl in Zentralamerika. Aber dieses fremdartige Symbol erweckte in ihm etwas Urzeitliches, Angsteinflößendes. Plötzlich wusste er auch, warum.
»Diese Pyramide ist Osiris geweiht.« Conrads Stimme zitterte.
»Na und?«, sagte Yeats. »Die meisten Pyramiden sind doch einem Gott gewidmet.«
»Du begreifst nicht«, sagte Conrad aufgeregt. »Dieses Siegel deutet darauf hin, dass die P4 vom König der Ewigkeit, dem Herrn der Urzeit beziehungsweise dem Schöpfer der Welt gebaut wurde.«
»Urzeit?«
»Ja, die Zeit der Entstehung der Welt, von der ich dir in der Eisstation Orion erzählt habe, also die Zeit, als die Menschheit aus der Ur-Finsternis entstand und von den Göttern die Gaben der Zivilisation erhielt. Alte ägyptische Texte sagen, dass diese Gaben und Techniken durch ›Vermittler‹ eingeführt wurden. Das waren weniger bedeutende Gottheiten, Urshu genannt, das heißt ›Wächter‹.«
Yeats dachte nach. »Du glaubst also, dass diese Urshu die Bewohner von Atlantis waren und die P4 erbaut haben?«
»Schon möglich«, sagte Conrad. »Serena wird da sicherlich ihre eigenen Schlüsse ziehen. Aber wir haben hier zweifelsohne den Ursprung der Welt gefunden.« Triumph lag in seiner Stimme. »Die menschliche Urkultur.«
»Die Urzeit.«
»Die Urzeit«, wiederholte Conrad und sprach die Worte in seinem besten Altägyptisch: »Zep Tepi.«
Kaum waren die Wörter aus seinem Mund gekommen, wirbelten sie mit zentrifugaler Kraft aus der Mitte des Kraterbodens durch die Kammer. Der Untergrund bebte.
Plötzlich sprang die Kartusche auf. Conrad wich stolpernd zurück, weil aus dem Boden ein Feuerstrahl nach oben in einen runden Deckenschacht schoss.
»Puh!«, rief er, stolperte und fiel auf den Hintern. Er rutschte auf das Feuerloch zu.
Yeats griff ihn am Arm und hielt ihn fest. »Immer mit der Ruhe.«
Auf einmal verschwand das Feuer wieder, und das Beben hörte auf. Ein kraterförmiger Schacht blieb an der Stelle zurück, wo die Kartusche aufgesprungen war.
Yeats zog Conrad auf die Beine. »Wo um alles in der Welt führt der jetzt hin?«
Conrad beugte sich über das Feuerloch und blickte hinein. Für den Bruchteil einer Sekunde konnte er den Blick auf einen glühenden Gang werfen, der in das Erdinnere zu führen schien. Aber die Restwärme des Feuerschwalls brannte auf seiner Stirn, und er zog den Kopf schnell wieder zurück.
Conrad berührte behutsam die Stirn, um sich zu vergewissern, dass sie auch wirklich noch da war. »So wie das aussah, kann es sich nur um die Hölle handeln.«
16 Abstieg, 6. Stunde
Es war der Wodka.
Es musste am Wodka liegen, fluchte Oberst Iwan Kowitsch, als er das erste Mal die Pyramide in der Eisschlucht erblickte. Entweder das oder die Amerikaner oben auf der Eisstation hatten ein Halluzinogen in sein Getränk geschüttet.
Auf jeden Fall war es Teil einer amerikanischen Verschwörung, um die Russen irre zu machen. Es hatte schon mit der imperialistisch-kapitalistischen Finanzierung der russischen Revolution von 1917 begonnen. Mit der Einsetzung Stalins und der Errichtung der Gulags war diese Verschwörung erst richtig in Fahrt gekommen. Und dann das Abschlachten von 20 Millionen im Zweiten Weltkrieg. Sie fand ihren Höhepunkt in der erniedrigenden Auflösung der Sowjetunion im Jahre 1991 und dem Bau goldener amerikanischer Hamburger-Tempel in Moskau.
Jetzt, wo die Vereinigten Staaten die unbestrittene Supermacht auf der Welt waren, war Kowitsch davon überzeugt, dass die Amerikaner die Russen nur noch zu ihrem grausamen Vergnügen am Leben erhielten, nämlich um ihnen mit Big Macs Nährstoffe vorzuenthalten und ihre Seelen mit TV-Shows wie Baywatch auszuhungern.
Aus dieser Hölle war Kowitsch in die karge, unverfälschte Schönheit der Antarktis geflüchtet, nur um in der Gestalt der Eisstation Orion auf eine wahre Luxusherberge im Schnee zu stoßen. Mit Computern auf dem neuesten Stand der Technik, Nobelschlafquartieren, Toiletten mit Spülung und einem Arsenal an Lebensmittelvorräten; fehlten eigentlich nur noch der Swimmingpool samt Wellnessbereich.
Der Pförtner des Hotels Orion, Colonel O'Dell, war während der Inspektion einigermaßen zuvorkommend gewesen. Aber der Amerikaner war dann doch noch ziemlich nervös geworden, als die russischen Messgeräte radioaktive Strahlung aufspürten und Kowitsch daraufhin vorschlug, den gähnenden Abgrund im Eis neben der Basis zu inspizieren.
Kowitsch war der festen Überzeugung, dass er drauf und dran war, eine Atomtestanlage dieser Schurken zu entdecken. Allein schon deswegen, weil Russland selbst am anderen Ende des Planeten, in der Arktis, eine solche besaß.
Erst als sie unten in der Schlucht angekommen waren und die Spitze der Pyramide sahen, erkannte Kowitsch, dass die Amerikaner mit ihm und seinen 20 russischen Kameraden hatten Schlitten fahren wollen. Wie würde er jemals den Schrecken in den Gesichtern seiner Leute vergessen können, als diese hunderte von Menschen in den Eiswänden dieses Grabes erblickten?
Wahrlich, ihr Offizier hatte sie in die Hölle geführt!
Das leuchtend weiße Äußere der Pyramide wurde nicht einmal aus der Nähe von ihrem Ultraschall erfasst. Es war eindeutig: Die Amerikaner hatten ein streng geheimes unzerstörbares Tarnmaterial entwickelt, das ihre Flotte und ihre Luftwaffe unsichtbar und unbesiegbar machte.
Und als ob es damit nicht genug war, spulte sich in Kowitschs Kopf immer wieder die gleiche Botschaft ab. »Warte, das ist noch nicht alles!«, wiederholte die Stimme wie ein schrecklicher amerikanischer Werbespot. »Noch nicht alles, noch nicht alles!« Als besonderen ›Höllen-Bonus‹ hatten die Amerikaner so etwas wie ein Freizeitmobil auf der Pyramidenspitze geparkt. Und dann war da noch ein Loch, das sie zum Weitergehen lockte.
Hier in diesem ›Habitat‹ hatte Kowitsch sich von den beiden amerikanischen Begleitern und von fünf seiner Leute getrennt. Er war mit der übrigen Mannschaft in den zwei Meter hohen Schacht vorgedrungen. Erst nach einer guten halben Stunde erreichten sie das andere Ende.
Sie gelangten in etwas, das einem massiven Backofen aus Stein glich, der etwa die Größe eines Olympiastadions besaß. Und in dieser Kammer befanden sich vier amerikanische Soldaten – zwei Männer und zwei Frauen –, die wortlos ihre Waffen abgaben.
Irgendwie schien es aus diesem Grab keinen Weg hinaus zu geben. Als schließlich die Versuche scheiterten, Wlad und den Rest der Mannschaft oben in der Eisstation Orion per Funk zu erreichen, schwante Kowitsch bereits das Schlimmste.
Er war an der Nase herumgeführt worden, stellte er fest. Das hier war eine Falle. Sie waren in das Massengrab gelockt worden und sollten da sterben. Bis es so weit war, würden die Amerikaner ihren langsamen Abstieg in den Wahnsinn mit versteckten Kameras filmen, um das Video dann neuen Rekruten als Anschauungsmaterial vorzuführen.
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