Schließlich fand einer seiner Leute doch noch einen Durchgang.
Kowitsch ließ ein paar Soldaten zurück, die die Amerikaner bewachen sollten, und ging mit den anderen dann den niedrigen viereckigen Tunnel hinab, bis sie zu einer Plattform kamen, von der aus man einen riesigen Gang sah, der ein Tunnel der Moskauer U-Bahn hätte sein können. Er war mindestens einhundert Meter hoch, schätzte er. In Boden und Decke und die glänzenden Mauern waren zwölf Meter breite und sechs Meter tiefe Rinnen eingelassen.
»Sehen Sie mal, Oberst!«, rief ein Soldat und deutete in den Abgrund. »Da geht's weiter!«
Kowitsch blickte über den Rand und konnte seinen Augen nicht trauen. In einem der Kanäle sah er zwei Seile, die ihn geradezu aufforderten, weiter hinabzusteigen.
In seinem aufgewühlten Inneren stieg eine Ahnung hoch, die durch die umherwirbelnden Bilder von Fastfood, Bikinis, Ginsu-Messern und Selbstverwirklichungsseminaren drang. Diese Ahnung teilte ihm unmissverständlich mit, dass er und seine Leute hier ihr Leben lassen würden; dass sie es nie wieder zurück zur Oberfläche schafften.
Mit fröstelnder Klarheit fällte Kowitsch die letzte strategische Entscheidung seines Lebens: Wenn sie aus diesem Grab nicht mehr herauskamen, dann sollten es die Amerikaner auch nicht mehr können.
17 Abstieg, 7. Stunde
Im unterirdischen Höllenkessel der P4 hielt Conrad gerade eine kalte Feldflasche an seine verbrühte Stirn, als aus dem Schacht ein mattes Glühen über den Kraterboden kroch. Die Brandwunde schmerzte zwar weiterhin, aber dennoch nahm er die Flasche weg. Einzelne Haare der versengten Augenbraue hafteten am Kondenswasser.
»Die Situation heizt sich ganz schön auf«, bemerkte Yeats. »Wir sollten zusehen, dass wir hier rauskommen, bevor wir von einem weiteren Feuerausbruch verbrutzelt werden. Mit den Frostbeulen an der Hand und den Verbrennungen im Gesicht hast du schon genug Schläge einstecken müssen.«
»Wir sollten wenigstens noch die Temperatur messen. Du hast doch einen Hitzesensor dabei, oder?«
Yeats zog einen kleinen Ball aus dem Rucksack. »Die Hülle ist aus demselben Material, das die NASA für die Außenverkleidung des Spaceshuttles verwendet«, sagte Yeats. »Achtung!«
Er warf den Ball in den Schacht. Kurz darauf erschienen die Zahlen auf seinem Handcomputer. Conrad sah sie sich an.
»Der hitzebeständige Sensor ist nach vier Meilen verglüht. Davor hat er eine Temperatur von gut 5.000 Grad Celsius gemessen.«
»Allmächtiger! Genauso heiß wie die Sonnenoberfläche.«
»Oder wie der flüssige Erdkern«, sagte Conrad. »Ich glaube, das hier ist ein geothermischer Spalt.«
»Ein geothermischer Spalt?« Yeats kniff die Augen zusammen. »So was wie die Dinger im Meer?«
Conrad nickte. »Einer meiner Professoren von früher hat eine solche heiße Stelle mal in Ecuador entdeckt, ungefähr fünfhundert Meilen vor der Küste in einer Tiefe von dreihundert Metern. Auf dem Meeresboden gibt es kaum Leben, weil es dunkel ist und die Temperatur um den Gefrierpunkt liegt. Aber dort, wo sich Risse in der Erdkruste befinden, entweicht die Hitze aus dem Erdkern und wärmt das Wasser. Deshalb können bestimmte Arten von Meerestieren – Felskrabben, Muscheln, aber auch bis zu drei Meter lange Würmer – dort überleben.«
Conrad sah sich um. Bei dieser geothermischen Kammer musste es sich um so etwas Ähnliches handeln. Blieb nur noch die Frage, ob die Erbauer von Atlantis die P4 über einem bereits existierenden Riss in der Erdkruste errichtet hatten, um die Wärme auszunutzen, oder ob sie über eine derart fortgeschrittene Technik verfügten, dass sie den Erdkern anzapfen konnten und dadurch quasi einen unbegrenzten Energievorrat hatten.
»So wie Platon das schildert, wurde Atlantis durch einen gewaltigen Vulkanausbruch zerstört«, sagte Yeats. »Vielleicht war das hier die Ursache.«
»Vielleicht ist es aber auch die legendäre Energiequelle von Atlantis«, meinte Conrad. »Die Bewohner von Atlantis nutzten angeblich die Kraft der Sonne. Die meisten Wissenschaftler nahmen daher automatisch an, dass damit die Sonnenenergie gemeint war. Aber diese geothermischen Risse zapfen den Erdkern an – der so heiß ist wie die Oberfläche der Sonne. Bei der Energiequelle von Atlantis könnte es sich also auch im übertragenen Sinn um die Kraft der Sonne handeln.«
»Schon möglich«, meinte Yeats.
Conrad merkte, dass Yeats an etwas anderes dachte, etwas, das mit dem archäologischen und technologischen Wert der P4 wahrscheinlich nichts zu tun hatte. »Hast du eine andere Theorie?«
Yeats nickte. »Eigentlich sagst du, dass die P4 im Wesentlichen eine riesige geothermische Maschine ist, die Wärme aus dem Erdkern ableiten kann, um das Eis der Antarktis zu schmelzen.«
Conrad wurde plötzlich ganz still. Er hatte diese katastrophale Konsequenz noch nicht bedacht. Für ihn waren solche Gedanken die Domäne von Unheil verkündenden Umweltaktivisten wie Serena. Er dachte wieder an die Leichen im Eis über der P4 und an Hapgoods Theorie der Erdkrustenverschiebung. Langsam stieg Angst in ihm hoch. Er hatte die Möglichkeit nicht bedacht, dass ein Naturereignis in der Größenordnung einer weltweiten Oberflächenverschiebung der Erde durch gezielte Planung ausgelöst werden konnte. Das wäre das Ende einer 41.000 Jahre alten Erdgeschichte. Yeats hingegen schien diesem Szenario schon ernsthafte Gedanken gewidmet zu haben. Conrad musste zugeben, dass unter der P4 mit Sicherheit genug Wärme aufgestaut war, um so viel Eis zum Schmelzen zu bringen, dass der steigende Meeresspiegel ganze Städte an den Küsten aller Kontinente auslöschen würde.
»Ja, diese Maschine könnte die Antarktis erwärmen«, sagte Conrad langsam. »Aber zu welchem Zweck?«
»Vielleicht um den Kontinent oder den Planeten für die Menschen bewohnbarer zu machen?«, fuhr Yeats fort. »Ist aber auch egal. Wichtig ist jetzt, dass es hier irgendwo einen Kontrollraum geben muss. Und den müssen wir finden. Bevor uns jemand zuvorkommt.«
»Genau.« Conrad fragte sich, warum es ihn überraschte, dass Yeats genauso praktisch veranlagt war wie er. »Dabei müsste es sich um die Hauptkammer handeln, also die mit den zwei verdeckten Himmelsschächten.«
»Dann nichts wie raus hier«, sagte Yeats. »Machen wir uns auf die Suche, bevor das Ding hier noch mal losgeht – und zwar richtig.«
Sie stiegen wieder zu dem Gang hoch. Conrad hatte Angst, dass er soeben etwas getan hatte, was er bisher nie zugelassen hatte, nämlich die Unversehrtheit eines Fundes zu gewährleisten. Schlimmer noch: Vielleicht hatte er sogar sich und andere zerstört. Er konnte fast das Flüstern hören, das ihn seine ganze Karriere hinweg verfolgt hatte und ihn jetzt den Tunnel hochtrieb: Grabräuber … Schänder unberührter Ausgrabungen … Conrad der Zerstörer. Sie mussten jetzt unbedingt zu Serena zurückkehren und dann die geheime Kammer in der P4 finden, um sicherzustellen, dass dieses kosmische Ventil abgesperrt wurde.
Als sie die Gabelung im großen Gang erreichten, zeigte Conrad sich keineswegs erstaunt, dass jetzt drei statt zwei Tunnel vorzufinden waren.
»Sag mir jetzt bloß nicht, dass du den vorher schon gesehen hast.«
»Nein, der war eindeutig nicht da«, sagte Conrad. »Möglicherweise haben wir von der unteren Kammer aus den Durchgang geöffnet.«
Conrad blickte zur oberen Kammer hinauf und sah mehrere Gestalten, die sich nach unten abseilten.
Yeats hatte sie auch bemerkt und packte Conrad am Arm. »Zurück«, flüsterte er. »Das ist ein Befehl.«
Sie knipsten ihre Stirnlampen aus und zogen sich in den neuen Tunnel zurück, wo sie zu beiden Seiten des Eingangs in Deckung gingen. Conrad presste sich mit dem Rücken fest an die Wand und blickte zu Yeats hinüber. Das matte Glühen unten aus dem Gang tauchte die Umrisse seines Vaters in den Schatten.
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