»Was war es noch gleich, warum Sie Ihre Meinung geändert haben und mich mitzockeln lassen?«
»In erster Linie, weil ich bei der NASA die Erfahrung gemacht habe, dass Frauen immer eine angenehme Bereicherung in einer Astronautenmannschaft sind.«
Genauso eine sexistische Bemerkung hatte sie erwartet. »Na so was. Und ich hätte gedacht, es liegt daran, dass Frauen präziser und akribischer arbeiten und überhaupt eher zum Multitasking befähigt sind als Männer.«
»Wenn sie nicht gerade zu emotional reagieren oder zu aufgeregt sind«, antwortete Yeats und verschwand aus dem Sichtfeld, gerade als Conrad sich neben sie abgeseilt hatte.
»Alles in Ordnung?«, fragte er.
Serena seufzte und schüttelte den Kopf. »Dein Vater kann's einfach nicht lassen.«
»So ist er nun einmal«, sagte Conrad tonlos. »Wenn er erst mal auf was programmiert ist, macht er immer weiter, bis zum bitteren Ende.«
»Und lässt eine Blutspur hinter sich.«
»Wir sollten ihn also lieber nicht so weit vorlassen«, sagte Conrad und seilte sich weiter ab.
Serena folgte ihm. Im tropischen Klima hatte er sich als ausgezeichneter Bergsteiger erwiesen. Unter den Bedingungen im Eis konnte eine Selbstüberschätzung allerdings tödlich sein. Sie machte sich Sorgen um ihn. Und um seine Seele. Um ihre auch. Sie hatte schon einmal versucht, ihn zu retten, und nun plagte sie das Gefühl, sie beide verdammt zu haben.
Conrad war jetzt außer Reichweite. Sie ließ sich einige Meter ab und fand etwas Halt an einem Absatz. Das Eis war von einem herrlichen Blau und schien fast zu leuchten. »Wunderschön«, sagte sie.
»Serena, nicht stehen bleiben, lass dich weiter ab …« Conrad sprach äußerst hastig.
Serena seilte sich langsam weiter ab. Conrads Gesichtsausdruck beunruhigte sie. Hyperventilierte er etwa? Sie merkte jedenfalls, dass sie selbst unnatürlich schnell atmete. Ihr Herz schlug nun ebenfalls noch schneller, wenn auch gleichmäßig. Sie sank weiter.
Conrad winkte sie mit dem dicken Handschuh zu sich. »Hier runter. Und? Siehst du sie?«
Serena schaute angestrengt in den Nebel. Eine Lücke tat sich auf, und sie sah, wie das Licht sich auf so etwas wie einen Landeplatz verteilte. »Ja, schon.«
»Nein, ich meine, siehst du sie wirklich?«
Plötzlich erkannte Serena, dass der Landeplatz in Wirklichkeit die abgeflachte Spitze einer leuchtend weißen Pyramide war, die steil aus der Tiefe des Abgrunds emporragte. Sie musste ihre Augen vor der Leuchtkraft schützen.
»Die P4«, hörte sie sich leise sagen.
»Frag mich bloß nicht, wie die hierher gekommen ist.« Conrad setzte seine Sonnenbrille auf. »Es wird noch eine Weile dauern, bis ich eine Erklärung habe.«
Die feste Überzeugung in seiner Stimme schaffte Vertrauen. Seine Aufregung war echt, unverfälscht und ergreifend. Keine Spur von Angst, dachte Serena neidisch, einfach schlichte Neugier und schlichter Enthusiasmus. Sie hatte dieses Gefühl schon fast vergessen.
Nun setzte auch sie sich die Sonnenbrille auf. Die abgeflachte Spitze, noch weißer als Schnee, blendete sie. Deshalb hatte der Papst sie also geschickt. Zwar hatte sie etwas Spektakuläres erwartet, aber sie war nicht auf das vorbereitet gewesen, was sie jetzt sah, auf die Ausmaße des Bauwerks. Es war gigantisch.
Sie starrte die Pyramide voller Staunen an, da hörte sie auf einmal, wie ihr Seil quietschte.
»Das ist normal, wenn das Seil sich spannt«, sagte Conrad. »Hat nichts zu sagen. Weiter.«
Wieder hörte sie ein durchdringendes Quietschen, diesmal aber auch das Klicken von Metall. Der Eishaken, der ihr Seil hielt, löste sich, und sie glaubte schon, sie würde fallen.
»Hilfe!«, schrie sie, schlug den Eispickel in die Wand und hielt sich daran fest. »Conrad!«
Conrad antwortete nicht. Sie drehte sich um. Er war verschwunden.
Sie hörte einen Pfeifton, sah Conrads Umrisse in den Nebel verschwinden. Das Seil neben ihr spannte sich.
»Conrad!«, schrie sie wieder und starrte in den Dunst.
Dann sah sie einen Schatten, der auf sie zugeklettert kam. Es war Yeats.
»Sie hätten ihn erst ins Grab bringen sollen, wenn alles vorbei ist.« Er ließ die Augen über die Nebelschwaden in der Tiefe wandern und zog dann mit einem Finger am Seil. »Er hängt noch dran.«
Serena hörte ein Knacken und sah, wie sich der Eishaken, mit dem Conrads Seil befestigt war, löste. »Mein Gott! Conrad! Nicht loslassen!«
»Scheiße.« Yeats sah Serena an.
Instinktiv zog sie den Eispickel heraus und warf ihn Yeats zu, der den Arm schützend vor sich hielt. »Hier, fangen Sie!«, rief sie und tauchte auch schon in die Tiefe.
Sie stürzte durch den Nebel und raste auf das Licht zu, bis sich das Seil spannte. Mit einem Ruck wurde sie abgebremst. Es fühlte sich an, als hätte sie sich das Becken gebrochen. Aber die Gurte hatten sich bewährt.
Ihr verschlug es den Atem. Etwas quietschte in der Stille. Es war ihr winddichter Parka, der beim Hin-und-her-Schwingen am Nylonseil scheuerte.
»Conrad?«
»Hier drüben«, antwortete er. »Ich habe was entdeckt.«
Sie drehte den Kopf in die Richtung, aus der seine Stimme kam, und mithilfe der Stirnlampe konnte sie sehen, dass er drei Meter von der Wand entfernt baumelte, wo nirgends ein Halt zu sehen war.
»Warte«, sagte sie und schwang zu ihm hinüber. Sie brauchte drei Anläufe, bevor sie ihn erreichte. Sie streckte ihre Hand aus, und er ergriff sie, hielt sie fest und zog Serena zu sich. Einen kurzen Augenblick lang klammerten sie sich aneinander und schwangen gemeinsam über dem Abgrund.
»Hör mit dem Bungeejumping auf, Conrad.« Sie bemühte sich, ihre Angst mit Sarkasmus zu überspielen.
»Schau mal!«, rief er.
Sie drehte sich im Dunkeln um. Ihre Stirnlampe tauchte die Wand in Licht. Da war etwas im Eis. Ihre Augen stellten sich auf die Beleuchtung ein. Ihr gegenüber war ein kleines Mädchen zu sehen, für immer im Eis gefangen.
»Jesus Maria«, flüsterte sie.
»Du hast mir doch mal gesagt, wir treffen uns erst wieder, wenn die Hölle zu Eis wird? Erinnerst du dich? Jetzt ist es so weit.«
Der Nebel zog nach oben, und das Licht beschien auf einmal die ganze Wand. Sogleich sah Serena hunderte von Menschen mit vor Angst erstarrten Gesichtern. Sie schienen alle gleichzeitig zu schreien. Serena hielt sich die Ohren zu. Sie war diejenige, die schrie.
Abstieg, 3. Stunde 12 Raumkapsel
Eine Stunde später waren sie in der warmen Raumkapsel auf der P4. Serena lag auf dem aufgeklappten Operationstisch. Conrad sah sie besorgt an. Sie blinzelte unter dem grellen Scheinwerferlicht. Man hatte ihr eine Sauerstoffmaske über das Gesicht gestülpt und am Oberkörper mehrere EKG-Elektroden angebracht. Das Haar war ihr aus dem Gesicht gestrichen worden. Zudem hatte man den Gürtel ihrer Hose gelockert.
Conrad deutete auf das beschlagene Bullauge, durch das die amerikanische Flagge zu sehen war, die Yeats auf der Spitze der Pyramide gehisst hatte.
»Konzentrier dich auf die Flagge, und atme tief durch«, sagte er und verabreichte ihr Sauerstoff.
Sie hatte keinen Parka und keinen Pullover mehr an, und nur mit Mühe konnte er es vermeiden, auf ihren vollen Busen zu starren, der sich unter ihrem Wollhemd auf und ab bewegte. Seit sie den Grund der Eisschlucht erreicht hatten, hyperventilierte sie. Anscheinend hatte ihr das offene Grab im Eis einen furchtbaren Schrecken eingejagt. Conrad sah auf den EKG-Monitor. Langsam kehrte ihre Herzfrequenz wieder in den Normalbereich zurück.
»Besser?«, fragte er gleich darauf.
Sie sah ihn an, als wäre er völlig verrückt.
Conrad ließ den Blick durch das voll gestopfte Habitat schweifen, das unten in der Schlucht auf der flachen Spitze der Pyramide errichtet worden war. Die Kapsel war 16 Meter lang und vier Meter breit. Yeats drängte sich mit den drei Technikern um die Monitore. Lieutenant Lopez war auch dabei. Conrad hatte die Offiziere bereits in der Eisstation Orion gesehen. Die anderen beiden, zwei blonde Muskelprotze, die gut eineiige Zwillinge sein konnten, hörten auf die Namen Kreigel und Marcus. Das waren hier unten eindeutig die Handlanger von Yeats.
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