Auf dem großen, kreisrunden Balkon der Villa, die dem Hauptgebäude und dem angebauten gläsernen Speisesaal am nächsten lag, saß eine ältere, kranke Dame in einem Rollstuhl und süffelte ein Glas Chäteau Carbonnieux, Jahrgang '78, während sie die Großartigkeit des Sonnenuntergangs genoß. Geistesabwesend berührte sie die Locken ihrer unvollständig rot gefärbten Haare und horchte hinter sich. Sie lauschte der Stimme ihres Mannes, der drinnen mit der Krankenschwester sprach, dann seinen Schritten, als er zu ihr heraustrat.
«Mein Gott«, sagte sie auf französisch.»Ich kann es immer noch nicht fassen.«
«Ich selbst kann es kaum glauben«, sagte der Kurier des Schakals.
«Willst du mir immer noch nicht sagen, warum Monseigneur dich — uns — hierhergeschickt hat?«
«Ich hab's dir gesagt. Ich bin nur ein Bote.«
«Und ich glaube dir nicht.«
«Es ist wichtig für ihn und ohne Konsequenz für uns. Genieße es, mein Liebling.«
«So nennst du mich immer, wenn du nichts erklären willst.«
«Dann solltest du aus der Erfahrung lernen und nicht weiter nachfragen, oder?«
«Nein, mein Lieber. Ich werde sterben…«
«Davon wollen wir nicht mehr sprechen!«
«Trotzdem ist es wahr. Das kannst du nicht vor mir verheimlichen. Ich mache mir keine Sorgen um mich selbst, sondern um dich, Michel… nein, nein, du bist Jean Pierre. Ich darf das nicht vergessen… Dennoch muß ich mir Sorgen machen. Dieser Ort, dieses wunderbare Hotel, diese Aufmerksamkeit. Ich glaube, du wirst einen furchtbaren Preis dafür bezahlen müssen, mein Lieber.«
«Warum sagst du das?«
«Es ist alles so großartig. Zu großartig. Irgend etwas stimmt nicht.«
«Du machst dir zu viele Sorgen.«
«Nein, nein, du betrügst dich selbst. Mein Bruder Claude hat immer gesagt, daß du zuviel von Monseigneur annimmst. Eines Tages wird er dir die Rechnung präsentieren.«
«Dein Bruder Claude ist ein lieber alter Mann mit Flausen im Kopf. Und deshalb gibt ihm der Monseigneur auch nur die unbedeutenden Aufträge. Schick ihn zum Montparnasse, um ein Papier zu holen, und er landet in Marseille, ohne zu wissen, wie er dahingekommen ist. «Das Telefon klingelte und unterbrach das Gespräch der beiden. Der alte Mann drehte sich um.»Unsere neue Freundin nimmt schon ab«, sagte er.
«Sie ist merkwürdig«, sagte seine Frau.»Ich traue ihr nicht.«
«Sie arbeitet für Monseigneur.«
«Wirklich?«
«Ich hatte noch keine Zeit, es dir zu sagen. Sie gibt Instruktionen an mich weiter.«
Die uniformierte Schwester, das hellbraune Haar streng nach hinten zu einem Knoten gebunden, erschien in der Tür.»Monsieur, es ist Paris«, sagte sie, wobei ihre großen grauen Augen die Dringlichkeit ausstrahlten, die ihre Stimme vermissen ließ.
«Danke. «Der Kurier des Schakals ging hinein.
«Gesegnet seist du, Kind Gottes«, sagte die Stimme mehrere Tausend Kilometer entfernt.»Geht alles nach Wunsch?«
«Unbeschreiblich«, antwortete der alte Mann.»Es ist… so großartig, mehr als wir verdienen.«
«Du wirst es verdienen.«
«Wie könnte ich das?«
«Du wirst es, indem du die Befehle, die dir die Schwester gibt, befolgst. Und zwar genau, ohne jede Abweichung, hast du verstanden?«
«Gewiß.«
«Gesegnet seist du. «Es gab ein Klicken in der Leitung, und die Stimme war weg.
Fontaine drehte sich zur Schwester um, die am anderen Ende des Zimmers stand, wo sie das Schubfach eines Tisches aufgeschlossen hatte. Er ging zu ihr hinüber, und seine Blicke wurden vom Inhalt der Schublade angezogen. Nebeneinander lagen ein Paar Operationshandschuhe, eine Pistole mit einem zylindrischen, bereits aufgeschraubten Schalldämpfer und ein Rasiermesser, dessen Klinge eingeklappt war.
«Ihre Instrumente«, sagte die Frau und überreichte ihm den Schlüssel, wobei sie ihre ausdruckslosen grauen Augen in seine bohrte.»Die Zielpersonen wohnen in der letzten Villa auf dieser Seite. Machen Sie sich mit der Gegend vertraut, machen Sie Spaziergänge, wie es alte Männer für den Kreislauf gerne tun. Sie müssen sie töten. Wenn Sie es tun, ziehen Sie vorher die Handschuhe an und feuern je eine Kugel in jeden Kopf. Es muß der Kopf sein. Dann müssen Sie die Kehlen durchschneiden…«
«Gütige Mutter Gottes, auch die der Kinder?«
«So lautet der Befehl.«
«Das ist barbarisch!«
«Möchten Sie, daß ich das weitergebe?«
Fontaine sah zur Balkontür hinüber, zu seiner Frau im Rollstuhl.»Nein, nein, natürlich nicht.«
«Dachte ich mir… Es gibt noch eine weitere Anweisung. Mit dem Blut eines der Toten müssen Sie Jason Borowski, Bruder des Schakals< an die Wand schreiben.
«Oh, mein Gott… Sie werden mich fassen, natürlich.«
«Das hängt von Ihnen ab. Koordinieren Sie die Exekution mit mir, und ich werde schwören, daß der große Krieger Frankreichs zur fraglichen Zeit hier in dieser Villa war.«
«Wann muß es getan werden?«
«Innerhalb der nächsten sechsunddreißig Stunden.«
«Und dann was?«
«Dann können Sie hierbleiben, bis Ihre Frau stirbt.«
Brendan Patrick Pierre Prefontaine war wieder erstaunt. Obwohl er keine Reservierung vorgenommen hatte, wurde er am Empfang des Tranquility Inn wie eine Berühmtheit behandelt. Nur Augenblicke nachdem er eine Villa bestellt hatte, wurde ihm gesagt, daß bereits alles arrangiert sei, und man fragte ihn, ob der Flug von Paris angenehm gewesen sei. Minutenlang herrschte Konfusion, da der Besitzer des Tranquility Inn nicht erreicht werden konnte. Er war nicht zu Hause und auch sonst nirgends auffindbar. Schließlich gab man auf, und der frühere Richter aus Boston wurde in seine Unterkunft geführt, ein hübsches Häuschen mit Blick aufs Meer. Zufällig, nicht mit Absicht, harte er in die falsche Tasche gegriffen und dem Manager für seine Freundlichkeit eine Fünfzig-Dollar-Note zukommen lassen. Prefontaine wurde sofort zu einem Mann, mit dem man rechnen mußte. Finger schnippten und Glöckchen bimmelten. Nichts war gut genug für den erstaunten Fremden, der da mit dem Wasserflugzeug von Montserrat eingeflogen worden war… Es war der Name, der alle hinter dem Empfangstisch in Verwirrung gebracht hatte: Konnte es so einen Zufall geben?… Nochmals den Gouverneur anrufen — sichergehen:»Gebt dem Mann eine Villa.«
Kaum hatte er sie betreten und sein spärliches Gepäck in Schrank und Schubladen verstaut, ging das Durcheinander weiter. Eine eisgekühlte Flasche Chäteau Carbonnieux, Jahrgang '78, zusammen mit frischen Blumen und einer Schachtel belgischer Schokolade, kamen an, wurden aber gleich wieder von einem verwirrten Kellner abgeholt, der sich damit entschuldigte, daß sie für eine andere Villa weiter unten — oder weiter oben — bestimmt seien.
Der Richter zog seine Bermudas an, erschrak über seine spindeldürren Beine und wählte ein wollenes Sporthemd in gedämpften Farben. Weiße Sportschuhe und eine weiße Stoffmütze vervollständigten seinen Tropendress. Bald würde es dunkel sein, und er wollte noch etwas Spazierengehen, aus verschiedenen Gründen.
«Ich weiß, wer Jean Pierre Fontaine ist«, sagte John St. Jacques, als er das Register am Empfangstisch las,»er ist derjenige, dessentwegen ich vom Büro des Gouverneurs angerufen wurde, aber wer, zum Teufel, ist B. P. Prefontaine?«
«Ein berühmter Richter aus den Vereinigten Staaten«, erklärte der große schwarze stellvertretende Manager mit betont britischem Akzent.»Mein Onkel, der stellvertretende Direktor der Grenzbehörde, rief mich vor zwei Stunden vom Flughafen aus an. Unglücklicherweise war ich gerade oben, aber unsere Leute haben genau richtig gehandelt.«
«Ein Richter?«fragte der Besitzer des Tranquility Inn. Der Manager nahm ihn am Ellbogen und bedeutete ihm, sich vom Tisch und von den Angestellten etwas zu entfernen.
Читать дальше