Robert Ludlum
Die Borowski-Herrschaft
Kowloon. Letztes, wimmelndes Anhängsel Chinas, dem Norden nur im Geiste zugehörig - und doch reicht der Geist tief in die menschliche Seele hinein, ohne auf die harten, belanglosen Realitäten politischer Grenzen Rücksicht zu nehmen. Land und Wasser sind eins, und der Geist bestimmt, wie der Mensch das Land und das Wasser nutzt - wieder ohne Rücksicht auf Leerformeln wie Freiheit, mit der man nichts anfangen kann, oder Gefangenschaft, aus der man ausbrechen könnte. Die Sorge gilt nur den leeren Mägen, den Mägen der Frauen, der Kinder. Dem Überleben. Sonst ist da nichts. Der Rest ist Dünger für die unfruchtbaren Felder.
Die Sonne ging unter. In Kowloon und auf der anderen Seite von Victoria Harbor auf der Insel Hongkong breitete sich eine unsichtbare Decke über das Chaos, das hier tagsüber herrschte. Die Schatten dämpften die schrillen Rufe der Straßenhändler, und in den oberen Stockwerken der kalten, majestätischen Bauten aus Stahl und Glas, aus denen die Skyline der Kolonie bestand, gingen leise geführte Verhandlungen zu Ende, mit einem Nicken, Achselzucken oder einem kurzen Lächeln in stillschweigendem Einvernehmen. Es wurde Nacht, und eine blendend orangerote Sonne kündigte sie an, die scharf durch eine riesige, ausgefranste Wolkenwand im Westen stieß - in unnachgiebigen Energiebündeln, so daß es schien, als wollten sie sich über dem Horizont entladen, damit dieser Teil der Welt das Licht nicht vergäße.
Bald würde Dunkelheit den Himmel überziehen, doch dort unten würde sie nicht Einzug nehmen. Unten würden die grellen Lichter die Erde in schreienden Farben beleuchten - diesen Teil der Erde, wo das Land und das Wasser angsterfüllte Straßen waren, offen allem Unheil. Und gleichzeitig mit dem nie endenden nächtlichen Karneval würden andere Spiele beginnen; Spiele, die der Mensch gar nicht erst hätte anfangen sollen. Der Tod war keine Handelsware.
Ein kleines Motorboot, dessen starke Maschine das schäbige Äußere des Bootes Lügen strafte, jagte durch den Lamma-Kanal auf den Hafen zu. Für einen unbeteiligten Beobachter war das Boot einfach nur eine weitere Xiao Wanju, das Erbstück eines einst unwürdigen Fischers, der es zu bescheidenem Wohlstand gebracht und das Boot seinem Erstgeborenen vermacht hatte -zu einem Wohlstand, der vielleicht mit einer verrückten Mah-Jongg-Nacht begonnen hatte oder mit Haschisch aus dem Goldenen Dreieck oder geschmuggelten Juwelen aus Macao -wen interessierte das schon? Jedenfalls konnte der Sohn jetzt seine Netze werfen oder seine Ware schneller an den Mann bringen, indem er sein Boot von einer schnellen Schiffsschraube treiben ließ anstatt von dem langsamen Segel einer Dschunke oder dem schwerfälligen Motor eines Sampans. Selbst die chinesischen Grenzwachen und die Marinestreifen an den Gestaden des Shenzhen Wan feuerten nicht auf solch belanglose Übeltäter; sie waren unwichtig, und wer wußte schon, welche Familien jenseits der New Territories auf dem Festland vielleicht Nutzen von seiner Fracht hatten. Es konnte auch eine der ihren sein. Die süßen Kräuter aus den Bergen brachten immer noch volle Mägen - vielleicht sogar für einen der Ihren. Sollten sie doch kommen. Und gehen.
Das kleine Boot mit den Segeltuchplanen, die das vordere Cockpit beiderseits abschirmten, verlangsamte seine Fahrt und schlängelte sich in vorsichtigem Zickzack durch die weitverstreute Flottille aus Dschunken und Sampans, die an ihre Liegeplätze in Aberdeen zurückkehrten. Die Leute von den Booten beschimpften den Eindringling, erregten sich über seine unverschämte Maschine und seine noch unverschämtere Kielwelle. Und dann verstummten sie, einer nach dem anderen, als der Eindringling an ihnen vorbeizog; irgend etwas unter den Planen brachte ihren Zorn zum Verstummen.
Das Boot raste in den Hafenkorridor, eine dunkle Wasserstraße, die jetzt von den flammenden Lichtern der Insel Hongkong auf der rechten und von Kowloon zur Linken begrenzt wurde. Drei Minuten später wurde das Geräusch des Außenbordmotors leiser, als das Boot langsam an zwei heruntergekommenen Leichtern vorbeiglitt, die am Pier vertäut waren, und schließlich eine freie Stelle an der Westseite von Tsim Sha Tsui ansteuerte, Kowloons Hafenviertel. Die Scharen von Händlern, die ihre nächtlichen Fallen für die Touristen aufstellten, achteten nicht weiter auf den Neuankömmling; schließlich war das nur ein weiterer Jigi, der vom Fischen hereinkam.
Und dann begann es in den Buden ebenso ruhig zu werden wie zuvor bei den Bootsleuten in Aberdeen. Erregte Stimmen wurden leiser, und die Blicke wandten sich der Gestalt zu, die über eine schwarze, ölverschmierte Leiter zum Pier hinaufstieg.
Er war ein heiliger Mann. Seine schlanke Gestalt war in einen schneeweißen Kaftan gehüllt - er war sehr groß für einen Zhongguo ren, einen Meter achtzig vielleicht. Von seinem Gesicht freilich war nur wenig zu sehen, da die leichte Abendbrise den weißen Stoff über seine dunklen Züge flattern ließ, so daß man nur das Weiße seiner Augen sehen konnte -entschlossene Augen, Augen eines Eiferers; dies war kein gewöhnlicher Priester, das konnte jeder erkennen: er war ein Heshang, ein Auserwählter, den die weisen Ältesten ausgesucht hatten, die, die schon in einem jungen Mönch erkennen konnten, ob er zu Höherem bestimmt war. Und wenn ein solcher Mönch groß und schlank war und Augen hatte, in denen das Feuer loderte, war das gerade recht. Solche heiligen Männer zogen Aufmerksamkeit auf sich, auf ihre Persönlichkeit, auf ihre Augen, und das führte zu großzügigen Spenden, aus Angst ebenso wie aus Ehrfurcht; vorwiegend aber aus Angst.
Vielleicht kam dieser Heshang von einer der mystischen Sekten, die durch die Berge und Wälder des Guangze wanderten, oder von einer religiösen Bruderschaft in den Bergen des weit entfernten Qing Gaoyuan - den Abkömmlingen, wie es hieß, eines Stammes im fernen Himalaja. Sie neigten dazu, mit großem Gepränge aufzutreten, und erweckten allenthalben große Furcht, da nur wenige ihre dunklen Lehren verstanden; Lehren der Sanftmut, doch mit subtilen Andeutungen unbeschreiblicher Pein, sollte man sich ihnen widersetzen. Dabei gab es doch auf dem Land und dem Wasser schon viel zuviel Pein - wer brauchte da noch mehr? Es empfahl sich also, den Geistern, den feurigen Augen, zu opfern. Vielleicht würde es irgendwo vermerkt werden. Irgendwo.
Die Gestalt in Weiß schritt langsam durch die sich ihr öffnende Menschenmenge am Kai, vorbei am überfüllten Pier der Star-Fähre, und verschwand im Gewühl von Tsim Sha Tsui. Jetzt war der Augenblick vorüber, und in den Buden wurde es wieder so laut wie vorher.
Der Priester schritt auf der Salisbury Road in östlicher Richtung aus, bis er das Peninsula-Hotel erreichte, dessen gedämpfte Eleganz dem Kampf mit der Umgebung nicht gewachsen war. Dann bog er nach Norden in die Nathan Road, wo die glitzernde Goldene Meile Hongkongs begann, jenes Viertels, wo die Gegensätze um Aufmerksamkeit buhlten. Chinesen wie Touristen starrten auf den stattlichen heiligen Mann, wie er an den Schaufenstern vorbeischritt, um die sich die Gaffer drängten, vorbei an den Seitengassen, die vor Ware überquollen, dreistöckigen Discos und Oben-ohne-Cafes, wo riesige, primitiv bemalte Plakattafeln orientalische Amulette und Zaubermittel anboten, über Garküchen, die in Dampf gekochte Delikatessen des mittäglichen Dim Sum anpriesen. Fast zehn Minuten schritt er durch das Gedränge und reagierte hier und da mit einem leichten Kopfnicken auf Blicke, die ihm galten, schüttelte auch zweimal den Kopf und erteilte dem kleinen, muskulösen Zhongguo ren Befehle, der ihm abwechselnd folgte und dann wieder mit schnellen, tänzelnden Schritten an ihm vorbeieilte und sich dabei umwandte, um in seinen Augen nach einem Zeichen zu suchen.
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