Nachdem sie in dem Haus in Iraklion auf professionellen Widerstand gestoßen waren, plante Spalko ihren nächsten Angriff sehr sorgfältig. Eine Erstürmung des Klosters bei Tageslicht kam nicht in Frage. Unabhängig davon, aus welcher Richtung sie sich annäherten, würden sie niedergemäht werden, lange bevor sie die von Zinnen gekrönten, massiven Mauern des Klosters erreichten. Während die Männer des Teams ihren verletzten Kameraden ins Flugzeug zurückbrachten, damit der Chirurg ihn versorgen konnte, und die benötigte Ausrüstung zusammenstellten, liehen Spalko und Sina sich Motorräder, um die Umgebung des Klosters zu erkunden.
Am Eingang der Schlucht stellten sie die Maschinen ab und wanderten hinunter. Der Himmel war leuchtend blau, so strahlend, dass er mit seiner Aura alle übrigen Farben zu tränken schien. Vögel kreisten und stiegen in der Thermik, und als die Brise kräftiger wurde, erfüllte der köstliche Duft von Orangenblüten die Luft. Seit sie seinen Privatjet bestiegen hatte, wartete Sina geduldig darauf, zu erfahren, warum der Scheich mit ihr allein sein wollte.
«Es gibt einen unterirdischen Zugang zum Kloster«, sagte Spalko, als sie über Geröll zu dem Teil der Schlucht abstiegen, der dem Kloster am nächsten war. Die Kastanien am Eingang der Schlucht hatten anspruchsloseren Zypressen Platz gemacht, deren verdrehte Stämme aus Erdspalten zwischen den Felsen wuchsen. Die beiden benützten ihre biegsamen Zweige als improvisierte Griffe, während sie weiter dem steil abfallenden Boden der Schlucht folgten.
Über die Informationsquellen des Scheichs konnte Si-na nur Vermutungen anstellen. Jedenfalls war klar, dass er über ein weltweites Netzwerk von Leuten verfügte, die ihm praktisch sämtliche Informationen beschaffen konnten, die er je benötigen würde.
Sie rasteten kurz im Schatten eines Felsblocks. Mittag war längst vorbei, und sie aßen Oliven, Fladenbrot und in Olivenöl, Essig und Knoblauch eingelegten Tintenfisch.
«Erzähl mir etwas, Sina«, sagte Spalko jetzt.»Denkst du oft an Chalid Murat — trauerst du ihm nach?«
«Er fehlt mir sehr. «Sina fuhr sich mit dem Handrücken über die Lippen und biss von einem Kanten Brot ab.»Aber nichts währt ewig, und jetzt ist Hassan unser Führer. Was ihm zugestoßen ist, war tragisch, aber es ist nicht unerwartet gekommen. Die russischen Unterdrücker haben uns alle im Visier; mit diesem Wissen müssen wir leben.«
«Was wäre, wenn ich dir erzählen würde, dass die Russen nichts mit Murats Tod zu schaffen hatten?«, fragte Spalko.
Sina hörte zu essen auf.»Das verstehe ich nicht. Ich weiß, was passiert ist. Das weiß jeder.«
«Nein«, sagte Spalko leise,»du weißt nur, was Hassan Arsenow dir erzählt hat.«
Sie starrte ihn an, und als sie zu begreifen begann, wurden ihr die Knie weich.
«Wie.?«Sina war so erschüttert, dass ihre Stimme versagte; sie musste sich räuspern und erneut anfangen, wobei sie merkte, dass ein Teil ihres Ichs die Frage, die sie jetzt stellen würde, nicht beantwortet haben wollte.»Woher weißt du das?«
«Das weiß ich«, erwiderte Spalko nüchtern,»weil Arsenow sich mir gegenüber verpflichtet hat, Chalid Murat zu liquidieren.«
«Aber weshalb?«
Sein Blick bohrte sich in ihre Augen.»Oh, das weißt du, Sina, das weißt du am besten — du als seine Geliebte, die ihn besser kennt als jeder andere. Du weißt es ganz genau!«
Und das stimmte leider; Hassan hatte selbst oft genug davon gesprochen. Chalid Murat verkörperte die alte Ordnung. Er konnte nicht über die Grenzen Tschetscheniens hinaus denken. Nach Hassans Überzeugung hatte er Angst davor, es mit der ganzen Welt aufzunehmen, und traute sich nicht einmal zu, die russischen Ungläubigen zu vertreiben.
«Hast du das nie vermutet?«
Und das wirklich Ärgerliche war, dass sie nie, keine Sekunde lang, Verdacht geschöpft hatte. Sie hatte Hassans Geschichte von A bis Z geglaubt. Am liebsten hätte Sina den Scheich belogen, um in seinen Augen cleverer dazustehen, aber unter seinem scharfen Blick war ihr bewusst, dass er geradewegs durch sie hindurchsehen und wissen würde, dass sie log — und dann würde er wahrscheinlich zu dem Schluss kommen, dass sie nicht vertrauenswürdig war, und sie fallen lassen.
Und so schüttelte sie gedemütigt den Kopf.»Er hat mich reingelegt.«
«Dich und alle anderen«, bestätigte er gleichmütig.»Mach dir nichts draus. «Er lächelte plötzlich.»Aber jetzt weißt du die Wahrheit. Du siehst, welche Macht Wissen verleiht, das andere nicht besitzen.«
Sie blieb einen Augenblick mit dem Rücken an den sonnenwarmen Fels gelehnt stehen und rieb sich die Handflächen an den Oberschenkeln ab.»Ich verstehe bloß nicht«, sagte sie,»warum du beschlossen hast, mich einzuweihen.«
Spalko hörte einen Doppelklang von Angst und Beklemmung in ihrer Stimme mitschwingen und fand das durchaus in Ordnung. Sie wusste, dass sie am Rand eines Abgrunds stand. Schätzte er sie richtig ein, hatte sie das von der Sekunde an vermutet, in der er ihr vorgeschlagen hatte, ihn nach Kreta zu begleiten — ganz sicher ab dem Augenblick, in dem sie Arsenow gemeinsam belogen hatten.
«Ja«, sagte er,»du bist auserwählt worden.«
«Aber wofür?«Sie merkte, dass sie zitterte.
Er trat auf sie zu, blieb dicht vor ihr stehen. Indem er das Licht blockierte, ersetzte er die Sonnenwärme durch seine eigene. Sina konnte ihn wie im Hangar riechen, und sein männlicher Duft ließ sie feucht werden.
«Du bist für große Dinge auserwählt worden. «Als er noch dichter an sie herantrat, wurde seine Stimme leiser, während ihre Intensität sich steigerte.
«Hassan Arsenow ist schwach, Sina«, flüsterte er.»Das habe ich sofort erkannt, als er mit seinem Attentatsplan zu mir gekommen ist. Wozu braucht er dich eigentlich? habe ich mich gefragt. Ein starker Krieger, der seinen bisherigen Führer für ungeeignet hält, beseitigt ihn selbst. - Er überlässt die Ausführung der Tat nicht anderen, die — wenn sie clever und geduldig sind — seine Schwäche eines Tages gegen ihn ausnützen werden.«
Sina zitterte von seinen Worten wie von seiner körperlichen Nähe, die ihre Haut kribbeln und ihre Nackenhaare sich aufrichten ließ. Ihr Mund war trocken, ihre Kehle voller Begehren.
«Was nützt mir Hassan Arsenow, Sina, wenn er schwach ist?«Als Spalko eine Hand auf ihre Brust legte, holte sie tief Luft.»Ich will’s dir sagen. «Sie schloss die
Augen.»Das Unternehmen, zu dem wir in wenigen Tagen aufbrechen werden, ist auf jeder Etappe höchst gefährlich. «Er umfasste eine Brust, drückte sie sanft.»Für den Fall, dass etwas schief geht, ist es klug, einen Anführer zu haben, der die Aufmerksamkeit des Feindes wie ein Magnet anzieht, sie auf sich lenkt, während die wirkliche Arbeit ungehindert weitergeht. «Er drängte sich gegen sie und fühlte, wie ihr Körper sich in einer Art Krampf, der sich ihrer Kontrolle entzog, an ihm aufrichtete» Verstehst du, was ich meine?«
«Ja«, flüsterte sie.
«Du bist die Starke, Sina. Hättest du Chalid Murat entmachten wollen, wärst du mit diesem Plan niemals zu mir gekommen. Du hättest ihn selbst beseitigt und das für eine segensreiche Tat zu deinem Wohl und dem deines Volkes gehalten. «Seine andere Hand glitt zwischen ihre Schenkel.»Hab ich Recht?«
«Ja«, sagte sie heiser.»Aber mein Volk würde niemals eine Führerin akzeptieren. Das ist unvorstellbar.«
«Für diese Leute, aber nicht für uns. «Seine Hände wanderten über ihren Körper.»Denk darüber nach, Sina. Wie ließe sich das erreichen?«
Es war schwierig, klar zu denken, während heiße Wellen ihren Körper durchfluteten. Ein Teil ihres Ichs erkannte, dass er das wollte. Er wollte sie nicht einfach hier in den Tiefen der Schlucht auf nacktem Fels unter freiem Himmel besitzen. Wie in dem Architektenhaus in Iraklion unterzog er sie einem Test. Verlor sie völlig den Kopf, gelang es ihr nicht, ihre Gedanken zu ordnen, schaffte er es, dass sie vor Begehren außerstande war, seine Frage zu beantworten, dann war sie für ihn erledigt. Dann würde er sich eine andere suchen, die für seine Zwecke geeignet war.
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