Oben lief Spalko in geduckter Haltung von einem Raum zum anderen. Das erste Schlafzimmer war leer, also huschte er ins nächste weiter. Als er am Bett vorbeikam, nahm er links von sich in dem Wandspiegel über der Kommode eine Bewegung wahr. Unter dem Bett bewegte sich etwas. Spalko ließ sich sofort auf die Knie nieder und verschoss einen Bolzen, der den Rüschenbehang des Bettgestells durchschlug. Das Bett wurde hochgehoben, als der Getroffene keuchend und stöhnend um sich schlug.
Auf den Knien liegend legte Spalko den nächsten Bolzen ein und begann zu zielen, als er plötzlich umgeworfen wurde. Etwas Hartes streifte seinen Schädel, eine Kugel surrte als Querschläger davon, und er fühlte ein Gewicht auf sich lasten. Er ließ sofort die Armbrust fallen, zog sein Jagdmesser und rammte es dem auf ihm lastenden Angreifer in den Leib. Als es bis zum Heft darin vergraben war, drehte er die Klinge, wobei er vor Anstrengung mit den Zähnen knirschte, und wurde mit einem heißen Blutstrom belohnt.
Mit einem Grunzen warf er den Söldner von sich ab, riss sein Messer heraus und wischte die Klinge an dem Rüschenbehang ab. Dann schoss er den zweiten Bolzen senkrecht durchs Bett. Teile der Matratzenfüllung flogen in die Luft, und die Bewegung unter dem Bett hörte abrupt auf.
Nachdem er die übrigen Räume im Obergeschoss durchsucht hatte, kam er ins Wohnzimmer zurück, wo nach dem Schuss der Gestank von Kordit hing. Einer seiner Männer kam durch die offene Hintertür herein und schleppte dabei den letzten überlebenden Söldner mit, den er schwer verwundet hatte. Der ganze Überfall hatte keine drei Minuten gedauert, was Spalko nur recht war; je weniger Aufmerksamkeit sie auf das Haus lenkten, desto besser.
Nirgends eine Spur von Dr. Felix Schiffer. Und trotzdem wusste Spalko, dass Laszlo Molnar ihn nicht belogen hatte. Diese Männer gehörten zu dem Söldnerkontingent, das Molnar angeworben hatte, als Conklin und er Dr. Schiffers Verschwinden organisiert hatten.
«Verluste?«, fragte er seine Männer.
«Marco ist verwundet. Nichts Schlimmes, ein glatter Oberarmdurchschuss links«, meldete einer von ihnen.»Zwei Gegner tot, einer schwer verwundet.«
Spalko nickte.»Und zwei Tote im ersten Stock.«
Der Mann deutete mit dem in seine Armbrust eingelegten Bolzen auf den letzten noch lebenden Söldner und fügte hinzu:»Der macht’s nicht mehr lange, wenn er keinen Arzt bekommt.«
Spalko sah zu Sina hinüber und nickte ihr leicht zu. Sie trat neben den Verletzten, kniete nieder, drehte ihn auf den Rücken. Er stöhnte laut, während seine Wunde wieder stärker zu bluten begann.
«Wie heißt du?«, fragte sie auf Ungarisch.
Er sah zu ihr auf. Schmerzen und das Bewusstsein, dass er nicht mehr lange zu leben hatte, verdunkelten seinen Blick.
Sina holte ein Streichholzbriefchen aus der Tasche.»Wie heißt du?«, wiederholte sie auf Griechisch.
Als sie keine Antwort bekam, wies sie Spalkos Männer an:»Haltet ihn fest.«
Zwei von ihnen beeilten sich, ihre Anweisung auszuführen. Der Söldner wehrte sich kurz, dann lag er still. Er starrte gleichmütig zu ihr auf; schließlich war er ein Berufssoldat.
Sie riss ein Streichholz an. Scharfer Schwefelgeruch begleitete das Aufflammen des Zündholzkopfs. Mit Daumen und Zeigefinger einer Hand spreizte sie ein Augenlid; mit der anderen Hand brachte sie die Flamme dicht an den exponierten Augapfel heran.
Das andere Auge des Söldners blinzelte manisch, und seine Atmung wurde röchelnd. Die von dem feuchten Augapfel reflektierte Flamme kam stetig näher. Der Mann empfand Angst, das sah sie, aber darunter verbarg sich ein Gefühl der Ungläubigkeit. Er glaubte einfach nicht, dass sie ihre Drohung wahr machen würde. Bedauerlich, aber für sie nicht weiter wichtig.
Der Söldner kreischte, und sein Körper bäumte sich auf, obwohl die Männer sich alle Mühe gaben, ihn festzuhalten. Er wand sich weiter heulend, als das erlöschende Streichholz rauchend auf seine Brust fiel. Sein unversehrtes Auge rollte verzweifelt in seiner Höhle, als versuche es, eine sichere Zuflucht zu finden.
Als Sina seelenruhig das nächste Zündholz anriss, musste der Söldner sich plötzlich übergeben. Sina ließ sich dadurch nicht beirren. Er musste jetzt begreifen, dass es nur eine Antwort gab, die bewirken würde, dass sie aufhörte. Er war nicht dumm; er wusste längst, wie sie lautete. Und kein Geld dieser Welt war solche Folterqualen wert. In dem tränenden unversehrten Auge las sie seine Kapitulation. Trotzdem würde sie nicht lockerlassen, bevor er ihr gesagt hatte, wohin sie Schiffer gebracht hatten.
Stepan Spalko, der hinter ihr stand und die Szene von Anfang bis Ende beobachtet hatte, war wider Willen beeindruckt. Er hatte keine klare Vorstellung davon gehabt, wie Sina vorgehen würde, wenn er ihr das Verhör übertrug. In gewisser Beziehung war das ein Test; aber es war auch mehr — es bot ihm die Möglichkeit, sie auf jene intime Weise kennen zu lernen, die er so schätzte.
Als Mann, der Tag für Tag Worte benützte, um Menschen und Ereignisse zu manipulieren, betrachtete Spal-ko sie mit angeborenem Misstrauen. Menschen logen, so einfach war das. Manche logen, weil ihnen gefiel, welche Wirkungen sie damit erzielen konnten; andere logen unbewusst, um sich vor Nachforschungen zu schützen; wieder andere belogen sich selbst. Nur darin, wie sie handelten, vor allem in extremen Situationen oder unter Zwang, zeigte sich ihr wahres Wesen. Dann gab es kein
Lügen mehr; man konnte den vorliegenden Beweisen unbesorgt vertrauen.
Jetzt wusste er eine Wahrheit über Sina, die er bis dahin nicht gekannt hatte. Er bezweifelte, dass Hassan Ar-senow sie kannte; dass er sie überhaupt geglaubt hätte, wenn man sie ihm erzählt hätte. In ihrem Innersten war Sina stahlhart, ja sie war sogar härter als Arsenow selbst. Als er jetzt beobachtete, wie sie aus dem unglücklichen Söldner die benötigten Informationen herausholte, wusste er, dass sie auch ohne Arsenow leben konnte — aber Arsenow nicht ohne sie.
Bourne wachte zum Klang von Übungsarpeggien und aromatischem Kaffeeduft auf. Einige Sekunden lang verharrte er noch zwischen Schlaf und Bewusstsein. Er merkte, dass er mit einer Steppdecke über sich und einem Daunenkissen unter dem Kopf auf Annaka Vadas’ Sofa lag. Im nächsten Augenblick kam er hellwach in Annakas sonnendurchflutetem Wohnzimmer an. Er drehte sich um und sah sie mit einem riesigen Kaffeebecher neben sich an ihrem Konzertflügel sitzen.
«Wie spät ist’s?«
Sie spielte weiter ihre Arpeggien, ohne den Kopf zu heben.»Nachmittag.«
«Jesus!«
«Ja, es war Zeit, ich übe, Zeit, dass du aufstehst. «Sie begann ein Thema zu spielen, das er nicht identifizieren konnte.»Beim Aufstehen dachte ich eigentlich, du wärst in dein Hotel verschwunden, aber dann bin ich hier reingekommen und habe dich schlafen gesehen wie ein Baby. Also bin ich in die Küche gegangen und habe Kaffee gekocht. Möchtest du Kaffee?«
«Gern.«
«Du weißt, wo er steht.«
Sie hob jetzt den Kopf, sah absichtlich nicht weg und beobachtete, wie er die Daunendecke zurückschlug und Hemd und Cordhose anzog. Er tappte ins Bad, und als er dort fertig war, ging er in die Küche. Als er sich Kaffee eingoss, sagte sie:»Du hast dich gut gehalten, auch wenn dein Körper so vernarbt ist.«
Er suchte die Sahne. Annaka trank ihren Kaffee anscheinend schwarz.»Die Narben verleihen mir Charakter.«
«Auch die quer über deiner Kehle?«
Bourne durchsuchte weiter den Kühlschrank und gab keine Antwort, sondern griff unwillkürlich nach seiner Wunde und spürte dabei wieder Mylene Dutroncs mitfühlende Fürsorge.
«Die ist neu«, sagte sie.»Woher hast du die?«
«Von einem Zusammentreffen mit einem sehr großen, sehr zornigen Wesen.«
Sie bewegte sich, als sei ihr plötzlich unbehaglich.»Wer hat versucht, dir die Kehle durchzuschneiden?«
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