Er riss die Pistole hoch und schoss. Funken sprühten vom Metall, und er sah eine der Gestalten von der Treppe springen, sich in der Luft zusammenrollen und zwischen den riesigen Abfallbehältern verschwinden. Der Polizeibeamte rannte los, aber der Sergeant blieb zunächst noch zurück. Er beobachtete, wie sein Mann die Ecke des ersten Müllbehälters erreichte und sich tief duckte, als er sich der Lücke zwischen ihnen näherte.
Der Sergeant blickte zu der zweiten Gestalt auf. Bei dem schwachen Licht waren kaum Einzelheiten zu erkennen, aber er sah dort oben niemanden. Die Feuertreppe schien leer zu sein. Wohin konnte der zweite Täter verschwunden sein?
Er konzentrierte seine Aufmerksamkeit wieder auf seinen Mann, der jedoch verschwunden war. Er trat einige Schritte auf die Müllbehälter zu, rief den Namen seines Untergebenen. Keine Antwort. Er hob sein Sprechfunkgerät an die Lippen und wollte eben Verstärkung anfordern, als ein schweres Gewicht auf ihn fiel. Der Sergeant taumelte, stürzte schwer, rappelte sich kniend auf, schüttelte benommen den Kopf. Dann kam jemand zwischen den Abfallbehältern hervor. Bevor er merkte, dass dies nicht sein Mann war, traf ihn bereits ein Schlag, und er verlor das Bewusstsein.
«Das war richtig dumm«, sagte Bourne und bückte sich, um Annaka vom Pflaster aufzuhelfen.
«Gern geschehen«, sagte sie, schüttelte seine Hand ab und stand aus eigener Kraft auf.
«Ich dachte, du hättest Höhenangst.«
«Vor dem Sterben habe ich noch mehr Angst«, erwiderte sie knapp.
«Komm, wir hauen ab, bevor noch mehr Polizisten kommen«, sagte er.»Ich denke, du solltest jetzt die Führung übernehmen.«
Die Straßenlaterne schien Chan in die Augen, als Bourne und Annaka aus der Gasse gerannt kamen. Obwohl er die Gesichter der beiden nicht sehen konnte, erkannte er Bourne an seiner Figur und seinen Bewegungen. Was seine Begleiterin anging, registrierte sein Verstand sie zwar beiläufig, aber er achtete nicht sonderlich auf sie. Wie Bourne interessierte ihn viel mehr, weshalb die Polizei in Laszlo Molnars Apartment aufgekreuzt war, als Bourne sich darin aufgehalten hatte. Und genau wie Bourne fiel ihm die Ähnlichkeit mit der Szene in Conklins
Landhaus in Manassas auf. Sie trug eindeutig Spalkos Handschrift. Aber im Gegensatz zu Virginia, wo er Spal-kos Mann entdeckt hatte, war Chan bei seiner gründlichen Erkundung der Umgebung von Molnars Apartmenthaus auf keinen möglichen Tippgeber gestoßen. Wer hatte also die Polizei angerufen? Irgendjemand musste in der Nähe gewesen sein und sie informiert haben, als Bourne und die Frau das Haus betreten hatten.
Er ließ den Motor seines Leihwagens an und konnte Bourne folgen, als er in ein Taxi stieg. Die Frau ging allein weiter. Chan kannte Bourne und war auf die Richtungsänderungen, das Hakenschlagen und den Fahrzeugwechsel vorbereitet und behielt Bourne auch während dieser Manöver, die etwaige Beschatter abschütteln sollten, in Sicht.
Endlich erreichte Bournes zweites Taxi die Fo utca. Vier Straßenblocks nördlich der prächtigen Kuppel der Kiraly-Bäder stieg Bourne aus und verschwand in dem Gebäude Nr. 106–108.
Chan fuhr langsamer und parkte dann in einiger Entfernung schräg gegenüber auf der anderen Straßenseite, um nicht am Hauseingang vorbeifahren zu müssen. Er stellte den Motor ab, machte sich auf dem dunklen Fahrersitz klein. Alex Conklin, Jason Bourne, Laszlo Molnar, Hassan Arsenow. Er dachte an Spalko und fragte sich, wie all diese einzelnen Namen zusammengehörten. Zwischen ihnen gab es eine logische Verbindung — die gab es immer, man musste nur imstande sein, sie zu erkennen.
So verstrichen fünf bis sechs Minuten, und dann hielt ein weiteres Taxi vor dem Haus Nr. 106–108. Chan sah eine junge Frau aussteigen. Er bemühte sich, einen Blick auf ihr Gesicht zu erhaschen, bevor sie die schwere Eingangstür aufstieß, konnte aber nur feststellen, dass sie rothaarig war. Er wartete und beobachtete die Fassade des Gebäudes. Als Bourne von der Straße hereingekommen war, war nirgends Licht aufgeflammt, was bedeutete, dass er unten in der Eingangshalle auf sie wartete — und dass sie hier wohnte. Tatsächlich war es kurze Zeit später hinter einem Erkerfenster im dritten und obersten Stock hell geworden.
Weil er nun wusste, wo sie waren, versenkte er sich in Zazen-Meditation, aber nachdem er eine Stunde lang vergebens versucht hatte, seine Gedanken zu klären, gab er auf. In der Dunkelheit schloss seine Hand sich um den kleinen, aus Stein geschnittenen Buddha. Dann fiel er fast augenblicklich in tiefen Schlaf, in dem er wie ein Stein in der Unterwelt seines wiederholten Albtraums versank.
Das Wasser ist blauschwarz, rastlos strudelnd wie von bösartiger Energie erfüllt. Er versucht, an die Oberfläche zu gelangen, und greift so kraftvoll aus, dass seine Gelenke unter der Belastung knacken. Trotzdem sinkt er, von dem um seinen Knöchel geknoteten Tau in die Tiefe gezogen, weiter ins Dunkel hinab. Seine Lunge beginnt zu brennen. Er sehnt sich danach, einmal Atem zu holen, aber er weiß, dass Wasser eindringen und er ertrinken wird sobald er den Mund aufmacht.
Er krallt nach unten, versucht das Tau aufzuknoten, aber seine Finger finden an der glitschigen Oberfläche keinen Halt. Den Schrecken dessen, was in der dunklen Tiefe auf ihn lauert, spürt er wie elektrischen Strom, der durch seinen Körper läuft. Dieser Schrecken hält ihn wie ein Schraubstock fest; er muss den Drang unterdrücken, haltlos zu wimmern. In diesem Augenblick hört er die aus der Tiefe aufsteigenden Klänge — Glockengeläut, der Gesang von Mönchen, bevor sie von den Roten Khmer ermordet wurden. Nach einiger Zeit wird daraus der Gesang einer einzelnen Stimme, eines klaren Tenors mit einer wiederholten Wehklage, die etwas von einer Gebetsmühle an sich hat.
Und während er in die dunkle Tiefe hinabstarrt, während er die Figur am anderen Ende des Seils, das ihn unerbittlich ins Verderben zieht, zu erkennen beginnt, hat er allmählich das Gefühl, das Lied, das er hört, müsse von dieser Figur kommen. Denn er kennt die Figur, die in der starken Strömung unter ihm kreiselt; sie ist ihm so vertraut wie das eigene Gesicht, der eigene Körper. Aber jetzt erkennt er mit einem Schock, der ihn ins Innerste trifft, dass der Gesang nicht von der vertrauten Figur unter ihm stammt, weil sie tot ist und ihn daher mit ihrem Gewicht ins Verderben zieht.
Der Klang kommt aus größerer Nähe, und nun erkennt er die Wehklage als die eines klaren Tenors — der eigenen Stimme, die tief aus seinem Innersten kommt. Sie berührt jeden Teil seines Ichs gleichzeitig.
«Lee Li-Li! Li-Li!«, ruft er, kurz bevor er ertrinkt…
Spalko und Sina erreichten Kreta vor Sonnenaufgang und landeten auf dem Flughafen Kazantzakis knapp außerhalb von Iraklion. Sie wurden von einem Chirurgen und drei Männern begleitet, die Sina während des Fluges unauffällig studiert hatte. Sie waren nicht besonders groß, was den Vorteil hatte, dass sie niemals aus der Menge hervorragen würden. Spalkos gesteigertes Sicherheitsbewusstsein diktierte, dass er sich — wenn er wie jetzt nicht als Stepan Spalko, Präsident von Humanistas, Ltd. sondern als der Scheich auftrat — möglichst unauffällig verhielt. Das galt nicht nur für ihn, sondern auch für alle seine Begleiter. In den sparsamen Bewegungen dieser Männer erkannte Sina ihre Kraft, denn sie hatten ihre Körper absolut unter Kontrolle, und wenn sie sich bewegten, taten sie es mit der Sicherheit und Geschmeidigkeit von Tänzern oder Jogameistern. In ihren dunklen Augen erkannte sie eine Zielstrebigkeit, die man erst nach jahrelanger harter Ausbildung erlangt. Auch wenn sie Sina respektvoll anlächelten, konnte sie die in ihnen lauernde Gefahr spüren, die wie eine zusammengerollte Schlange geduldig darauf wartete, freigesetzt zu werden.
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