Bourne blinzelte und sah nun gegen seinen Willen den aus Stein geschnittenen kleinen Buddha, den Chan an einer Kette um den Hals trug. Er sprang auf und wischte mit einem gutturalen Schrei, aus dem tiefste Verzweiflung sprach, Tischlampe, Schreibunterlage, Briefmappe und Kristallascher von dem Schreibtisch im Schlafzimmer. Mit zu Fäusten geballten Händen schlug er sich mehrmals an den Kopf. Verzweifelt aufstöhnend sank er auf die Knie und wiegte sich in dieser Haltung vor und zurück. Erst das Klingeln des Telefons brachte ihn wieder zu sich.
Mit brutaler Gewalt zwang er sich dazu, wieder klar zu denken. Das Telefon klingelte weiter, und er empfand einen Augenblick lang den Drang, es klingeln zu lassen. Stattdessen nahm er den Hörer ab.»Hier ist Janos Va-das«, flüsterte eine heisere Raucherstimme.»Matthiaskirche. Mitternacht, keinen Augenblick später. «Dann wurde aufgelegt, bevor Bourne ein Wort sagen konnte.
Als Chan erfuhr, dass Jason Bourne tot war, hatte er das Gefühl, sein Inneres sei nach außen gekehrt worden, so-dass alle seine Nerven für einen Moment der ätzenden Außenluft ausgesetzt waren. Er berührte seine Stirn mit dem Handrücken, war sich sicher, von innen heraus zu verbrennen.
Er war auf dem Flughafen Orly, wo er mit Beamten der Surete Nationale sprach. Informationen von ihnen zu erhalten war lachhaft einfach. Mit einem Presseausweis, den sein Pariser Kontaktmann ihm — für einen unanständig hohen Preis — besorgt hatte, gab Chan sich als Reporter der hiesigen Zeitung Le Monde aus. Allerdings spielte Geld für ihn keine Rolle. Er besaß mehr, als er sinnvoll ausgeben konnte, aber die Warterei auf den Presseausweis hatte ihn nervös gemacht. Als die Minuten zu Stunden wurden, der Nachmittag in den Abend überging, hatte er erkannt, dass er mit seiner berühmten Geduld am Ende war. In dem Augenblick, in dem er David Webb — Jason Bourne — gesehen hatte, war die Zeit umgekrempelt worden: Die Vergangenheit war zur Gegenwart geworden. Seine Hände ballten sich zu Fäusten, und er spürte seinen Puls in den Schläfen hämmern. Zum wievielten Mal seit seiner ersten Begegnung mit Bourne hatte er das Gefühl, den Verstand zu verlieren? Den absolut schlimmsten Augenblick hatte er durchlitten, als er in der Altstadt von Alexandria neben ihm auf einer Parkbank gesessen und mit ihm gesprochen hatte, als stünde nichts zwischen ihnen, als sei die Vergangenheit eine belanglos gewordene akademische Frage, als gehöre sie zum Leben eines anderen, den Chan sich nur eingebildet hatte. Das Irreale dieses Augenblicks, von dem er jahrelang geträumt, den er herbeigesehnt hatte, hatte ihn aller Substanz beraubt mit dem Gefühl zurückgelassen, alle Nerven seines Körpers seien wund gerieben. Sämtliche Emotionen, die er über Jahre hinweg zu zügeln und zu unterdrücken versucht hatte, hatten rebelliert, waren an die Oberfläche aufgestiegen, hatten Übelkeit verursacht. Und nun hatte ihn diese Nachricht wie ein Blitz aus heiterem Himmel getroffen. Er hatte das Gefühl, als sei die Leere in seinem Inneren, von der er gehofft hatte, sie werde bald ausgefüllt sein, nur noch weiter und tiefer geworden, bis sie ihn ganz zu verschlingen drohte. Er konnte es hier keine Sekunde länger aushalten.
Gerade noch hatte er mit einem Notizblock in der Hand die Pressesprecherin der Surete interviewt; im nächsten Augenblick fühlte er sich in die Vergangenheit, in den vietnamesischen Dschungel zurückversetzt — in das aus Holz und Bambus erbaute Haus des Missionars Richard Wick, des großen, hageren Mannes, der ihn nach seiner Flucht vor dem vietnamesischen Waffenschmuggler, den er ermordet hatte, aus der Wildnis gerettet hatte. Obgleich Wick stets melancholisch wirkte, lachte er gern, und der sanfte Ausdruck seiner braunen Augen kündete von großer Menschenliebe. Wick war ein unerbittlicher Zuchtmeister, wenn es darum ging, aus dem Heidenkind Chan ein Kind Gottes zu machen, aber in der entspannten Atmosphäre des Abendessens und des ruhigen Tagesausklangs war er freundlich und sanft, so-dass er schließlich Chans Vertrauen gewann.
So sehr, dass Chan eines Abends beschloss, Wick sein Leben zu erzählen, ihm seine Seele zu offenbaren, um geheilt zu werden. Chan wünschte sich nichts sehnlicher, als geheilt zu werden: den Abszess herauszuwürgen, der ihn innerlich vergiftete, weil er stetig wuchs. Er wollte seine Wut darüber bekennen, dass sein Vater ihn verlassen hatte; er wollte von ihr befreit werden, denn er hatte in letzter Zeit verstehen gelernt, dass er ein Gefangener seiner extremen Gefühle war.
Er sehnte sich danach, sich Wick anzuvertrauen und ihm den Gefühlsaufruhr zu schildern, der in seinem Inneren tobte, aber die Gelegenheit dazu ergab sich nie. Wick war stets damit ausgelastet, diesem» verlassenen, gottlosen Weltwinkel «das Wort Gottes zu verkünden. Zu diesem Zweck förderte er Bibelkreise, an denen Chan teilnehmen musste. Tatsächlich hatte Wick eine Vorliebe dafür, Chan vor seiner Gruppe aufstehen und auswendig aus der Bibel rezitieren zu lassen, als sei er ein genialischer Idiot, der auf Jahrmärkten für Geld gezeigt wurde.
Chan hasste diese Auftritte, er fühlte sich durch sie ge-demütigt. Seltsamerweise empfand er die Demütigung umso stärker, je stolzer Wick auf ihn zu sein schien. Bis der Missionar eines Tages einen weiteren Jungen ins Haus brachte: das einzige Kind eines tödlich verunglückten Missionarsehepaars. Weil er ein Weißer war, überhäufte Wick ihn mit der Liebe und Fürsorge, nach der Chan sich vergeblich gesehnt hatte — und die ihm, wie er jetzt sah, niemals zuteil werden würde. Trotzdem gingen die grässlichen Litaneien aus der Bibel weiter, während der andere Junge stumm dabeisaß und zuhörte, ohne unter der Demütigung zu leiden, die Chan peinigte.
Er konnte die Tatsache, dass Wick ihn benützte, nie überwinden, und verstand erst an dem Tag, an dem er weglief, die Ungeheuerlichkeit von Wicks Verrat an ihm. Sein Wohltäter, sein Beschützer interessierte sich nicht für ihn, sondern war nur darauf bedacht, einen weiteren Konvertiten zu gewinnen, einen weiteren Wilden der göttlichen Erleuchtung teilhaftig werden zu lassen.
In diesem Augenblick klingelte sein Handy und holte ihn in die schreckliche Gegenwart zurück. Nachdem er mit einem Blick aufs Display festgestellt hatte, von wem der Anruf kam, entschuldigte er sich bei der Pressesprecherin und trat in die betriebsame Anonymität des Terminals hinaus.
«Das nenne ich eine Überraschung«, sagte er ins Handy.
«Wo sind Sie?«, fragte Stepan Spalko knapp, als sei er sehr beschäftigt.
«Flughafen Orly. Ich habe gerade von der Surete erfahren, dass David Webb tot ist.«
«Wirklich?«
«Nach meinen Informationen ist er mit einem Motorrad frontal gegen einen Lastwagen geknallt. «Chan machte eine Pause, wartete auf eine Reaktion.»Sie sind offenbar nicht gerade begeistert, muss ich sagen. Ist das nicht, was Sie wollten?«
«Es ist verfrüht, Webbs Tod zu feiern, Chan«, sagte Spalko trocken.»Mein Kontaktmann an der Rezeption des Grandhotels Danubius hier in Budapest hat mir gemeldet, dass Alexander Conklin eben dort angekommen ist.«
Chan war so schockiert, dass er spürte, dass er weiche
Knie bekam. Er trat an die nächste Wand, lehnte sich dagegen.»Webb?«
«Bestimmt nicht Alex Conklins Geist!«
Zu seinem Verdruss merkte er, dass ihm kalter Schweiß auf der Stirn stand.»Warum sind Sie so sicher, dass er’s ist?«
«Mein Kontaktmann hat ihn mir beschrieben. Ich kenne das Phantombild, das in Umlauf gebracht worden ist.«
Chan knirschte mit den Zähnen. Obwohl er wusste, dass dieses Gespräch wahrscheinlich ein schlimmes Ende nehmen würde, hörte er sich unaufhaltsam weitersprechen.»Sie haben gewusst, dass David Webb mit Jason Bourne identisch ist. Warum haben Sie mir das nicht gesagt?«
«Weil ich keinen Grund dafür gesehen habe«, sagte Spalko gelassen.»Sie haben nach Webb gefragt, und ich habe die gewünschten Informationen geliefert. Es ist nicht meine Gewohnheit, anderer Leute Gedanken zu lesen. Aber ich finde Ihren Unternehmungsgeist lobenswert.«
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