Heute war er jedoch zum Abendessen ausgegangen, denn der Nachmittag war so hektisch gewesen, dass er sein tägliches Rendezvous auf den späten Abend hatte verschieben müssen. Es hatte Aufregung gegeben, die ihn persönlich betroffen machte. Seine amerikanischen Freunde hatten einen, weltweit gültigen Liquidierungsauftrag an ihn weitergeleitet, der ihm das Blut in den Adern hatte gerinnen lassen, denn die Zielperson war Jason Bourne.
Er hatte Bourne vor einigen Jahren ausgerechnet in einem Kurhotel kennen gelernt. Robbinet hatte in einem Wellness-Center in der Nähe von Paris ein Wochenende gebucht, um es mit seiner damaligen Geliebten, einer winzigen Person, die in vielem unersättlich war, verbringen zu können. Sie war beim Ballett gewesen; Robbinet dachte noch immer sehr gern an ihren wundervoll geschmeidigen Körper zurück. Jedenfalls waren sie sich im Dampfbad begegnet und ins Gespräch gekommen. Auf höchst beunruhigende Weise hatte Robbinet dann erfahren, dass Bourne dort auf der Suche nach einer bestimmten Doppelagentin war. Sobald sie enttarnt war, hatte Bourne sie liquidiert, während Robbinet eine Anwendung bekam — eine Fangopackung, wenn er sich recht erinnerte. Gerade noch rechtzeitig, denn die Doppelagentin hatte sich als Masseuse ausgegeben, um Robbinet zu ermorden. Gab es einen Ort, wo man verwundbarer war als auf einer Massagebank? fragte Robbinet sich. Was hätte er danach tun können, außer Bourne zu einem üppigen Essen einzuladen? Seit sie sich an jenem Abend bei Gänseleber-Terrine, Kalbsnieren in Trüffelvinaigrette und Torte Tatin, alles mit drei Fla-schen feinstem Bordeaux hinuntergespült, ihre Geheimnisse anvertraut hatten, waren sie gute Freunde.
Durch Bourne hatte Robbinet Alexander Conklin kennen gelernt und war Conklins Mittelsmann im Außenministerium und bei Interpol geworden.
Letztlich erwies Robbinets Vertrauen zu seiner Assistentin sich als Glück für Jason Bourne, denn er saß mit Delphine bei Kaffee und höchst dekadenten Petits Fours im Chez Georges, als sie ihn anrief. Er liebte dieses Restaurant wegen seiner Küche und seiner Lage. Weil es gegenüber der Börse lag, verkehrten hier Börsenmakler und Bankiers: Leute, die weit diskreter waren als die schwatzhaften Politiker, unter die Robbinet sich manchmal mischen musste.
«Ich habe jemanden am Apparat«, sagte seine Assistentin in seinem Ohr. Zum Glück wurden nach Dienstschluss eingehende Anrufe zu ihr nach Hause durchgestellt.»Er sagt, dass er Sie dringend sprechen muss.«
Robbinet lächelte Delphine an. Seine Geliebte war eine elegante, reife Schönheit, äußerlich das genaue Gegenteil von seiner Frau, mit der er seit dreißig Jahre verheiratet war. Sie hatten sich gerade höchst angeregt über Aristide Maillol, dessen üppige Akte die Tuilerien schmückten, und Jules Massenet unterhalten, dessen Oper Manon sie beide für überschätzt hielten. Er konnte wirklich nicht verstehen, weshalb amerikanische Männer eine Vorliebe für Mädchen hatten, die kaum dem Teenageralter entwachsen waren. Die Vorstellung, sich eine Geliebte im Alter seiner Tochter zu nehmen, erschien ihm beängstigend und sinnlos zugleich. Um Himmels willen, worüber hätten sie sich bei Kaffee und Petits Fours unterhalten sollen?» Hat er seinen Namen angegeben?«, sagte er ins Handy.
«Ja. Jason Bourne.«
Robbinets Herz begann zu jagen.»Stellen Sie ihn durch«, entschied er sofort. Weil es unhöflich gewesen wäre, in Anwesenheit seiner Geliebten länger zu telefonieren, entschuldigte er sich, trat in den feinen Nebel eines Pariser Abends hinaus und wartete auf die Stimme seines alten Freundes.
«Mein lieber Jason! Wann haben wir zuletzt miteinander telefoniert?«
Bournes Stimmung besserte sich schlagartig, als Jacques Robbinets dröhnende Stimme aus seinem Handy drang. Endlich ein Insider, der’s nicht — hoffentlich nicht! — darauf abgesehen hatte, ihn umzulegen. Bourne war mit einem weiteren gestohlenen Wagen auf dem Capital Beltway unterwegs, um sich mit Deron zu treffen.
«Das weiß ich ehrlich gesagt nicht.«
«Jahrelang nicht mehr, ist das nicht unglaublich?«, sagte Robbinet.»Aber ich gebe zu, dass Alex mich über dich auf dem Laufenden gehalten hat.«
Bourne, der anfangs leicht beklommen gewesen war, begann sich zu entspannen.»Jacques, du hast von Alex gehört.«
«Ja, mon ami. Der CIA-Direktor hat dich auf die Abschussliste der Agency gesetzt. Aber ich glaube kein Wort davon. Du kannst Alex unmöglich ermordet haben. Weißt du schon, wer’s war?«
«Das versuche ich gerade rauszukriegen. Sicher weiß ich im Augenblick nur, dass ein gewisser Chan in den Fall verwickelt sein muss.«
Am anderen Ende herrschte so lange Schweigen, dass Bourne schließlich fragen musste:»Jacques? Bist du noch da?«
«Gewiss, mein Freund. Du hast mich erschreckt, das war alles. «Robbinet atmete tief durch.»Diesen Chan, den kennen wir. Er ist ein Profi, ein erstklassiger Auftragskiller. Wir wissen, dass er für über ein Dutzend Morde an prominenten Persönlichkeiten in aller Welt verantwortlich ist.«
«Wer sind die Zielpersonen?«
«Hauptsächlich Politiker — zum Beispiel der Präsident von Mali —, aber manchmal auch prominente Geschäftsleute. Unseres Wissens sind seine Taten weder politisch noch ideologisch motiviert. Er übernimmt die Aufträge allein wegen des Geldes. Nur darauf kommt’s ihm an.«
«Diese Sorte ist die gefährlichste…«
«Zweifellos, mon ami «. sagte Robbinet.»Verdächtigst du ihn, Alex ermordet zu haben?«
«Er könnte es gewesen sein«, antwortete Bourne.»Ich bin ihm auf dem Anwesen begegnet, nachdem ich die Leichen gefunden hatte. Vielleicht hat er die Polizei angerufen, denn sie ist gekommen, als ich noch im Haus war.«
«Eine klassische Falle«, bestätigte Robbinet.
Bourne schwieg einen Augenblick, weil er an Chan dachte, der ihn auf dem Campus oder später von der Weide am Bachufer aus hätte erschießen können. Für Chan war dies offenbar kein gewöhnlicher Auftrag; vielmehr schien es sich um eine Art Vendetta zu handeln, die ihren Ursprung im südostasiatischen Dschungel hatte. Die logischste Annahme war, dass Bourne Chans Vater getötet hatte. Jetzt befand sein Sohn sich auf einem Rachefeldzug. Weshalb wäre er sonst so von Bournes Familie besessen gewesen? Weshalb hätte er sonst behauptet, Bourne habe Jamie verlassen? Diese Theorie passte genau zu den bisher bekannten Umständen.
«Was kannst du mir noch über Chan erzählen?«, fragte Bourne jetzt.
«Sehr wenig«, antwortete Robbinet,»nur sein Alter: Er ist siebenundzwanzig.«
«Er sieht jünger aus«, meinte Bourne nachdenklich.»Außerdem ist er ein Eurasier.«
«Angeblich ist er zur Hälfte Kambodschaner, aber das sind nur Gerüchte.«
«Und die andere Hälfte?«
«Da könnte ich auch nur raten. Er ist ein Einzelgänger, anscheinend ohne Laster, Wohnsitz unbekannt. Vor sechs Jahren ist er schlagartig bekannt geworden, als er den Premierminister von Sierra Leone ermordet hat. Davor hat er praktisch nicht existiert.«
Bourne sah in den Rückspiegel.»Also hat er erstmals offiziell gemordet, als er einundzwanzig war.«
«Eine gelungene Coming-out-Party«, sagte Robbinet trocken.»Hör zu, Jason, was diesen Chan angeht, kann ich gar nicht genug betonen, wie gefährlich er ist. Wenn er irgendwas mit dieser Sache zu tun hat, rate ich zu äußerster Vorsicht.«
«Das klingt, als hättest du Angst, Jacques.«
«Die habe ich allerdings, mon ami . Ist Chan an einer Sache beteiligt, dann ist das keine Schande. Das gilt auch für dich. Eine gesunde Dosis Angst macht vorsichtig, und Vorsicht ist hier angebracht, das kannst du mir glauben.«
«Ich werd’s mir merken«, sagte Bourne. Er wechselte die Spur, fuhr langsamer und hielt Ausschau nach der richtigen Ausfahrt.»Alex hat an etwas gearbeitet, und ich glaube, dass er deswegen ermordet worden ist. Weißt du zufällig, woran er gearbeitet hat?«
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