Jetzt konnte er zum erstenmal die luxuriöse Einrichtung des Raums sehen: das Gemälde von Raoul Dufy, ein elegantes Reiterporträt aus dem Bois de Boulogne, die leuchtend dunkelgrün gestrichenen Wände, die hohe, cremefarben abgesetzte Decke, deren Stuckverzierungen im klaren Pariser Licht deutlich hervortraten. Weiter, drängte er sich selbst. Weiter … Ein Orientteppich, zwei Polsterstühle mit hohen Rückenlehnen und ein schwerer Walnussschreibtisch im Louis-XIV.-Stil, hinter dem ein großer, gut aussehender Mann mit wissenden Augen, einer langen gallischen Nase und frühzeitig ergrautem Haar stand. Jacques Robbinet, der französische Kulturminister.
Das war’s! Woher Bourne ihn kannte, weshalb sie Freunde und in gewissem Sinn Landsleute geworden waren, blieb noch rätselhaft, aber nun wusste er zumindest, dass er einen Verbündeten hatte, mit dem er Verbindung aufnehmen, auf den er zählen konnte. Freudig erregt stellte Bourne die Flasche Scotch als Geschenk für den ersten Stadtstreicher, der sie entdeckte, unter die Bank. Er sah sich unauffällig um. Der alte Mann war verschwunden — und mit ihm die meisten Tauben; nur noch einige Tauber, die aufgeplustert ihr Territorium verteidigten, stolzierten umher und pickten die letzten Brotkrumen auf. Auf einer der benachbarten Bänke küsste sich ein junges Paar; drei Jugendliche, die mit einem Ghettoblaster an ihnen vorbeikamen, machten anzügliche Bemerkungen über die beiden. Bourne hatte den Eindruck, seine Sinne seien übernatürlich geschärft. Irgendetwas war hier nicht in Ordnung, passte nicht hierher, aber er konnte nicht herausfinden, was es war.
Ihm war durchaus bewusst, dass der Zeitpunkt für sein Treffen mit Deron rasch näher rückte, aber ein Instinkt warnte ihn davor, sich zu bewegen, bevor er die Anomalie identifiziert hatte. Er betrachtete nochmals die Men-schen in seiner Umgebung. Kein bärtiger Mann, jedenfalls keiner, der leicht hinkte. Und trotzdem… Ihm schräg gegenüber saß ein Mann mit aufgestützten Ellbogen und gefalteten Händen nach vorn gebeugt. Er beobachtete einen kleinen Jungen, dem sein Vater gerade eine Eiswaffel gegeben hatte. Was Bourne an ihm interessierte, war die Tatsache, dass er eine Bomberjacke aus dunklem Wildleder und dazu eine schwarze Hose trug. Sein Haar war schwarz, nicht grau; er hatte keinen Bart, und seine Beine sahen so normal aus, dass Bourne ihm keinen hinkenden Gang zutraute.
Bourne, selbst ein Chamäleon und ein wahrer Verwandlungskünstler, wusste recht gut, dass ein veränderter Gang zu den besten Tarnmethoden zählte — vor allem wenn man einen Profi täuschen wollte. Ein Amateur achtete vielleicht eher auf Äußerlichkeiten wie Haarfarbe und Kleidung, aber für einen ausgebildeten Agenten war die Art und Weise, wie jemand sich bewegte, so charakteristisch wie ein Fingerabdruck. Er versuchte, sich den Mann in der Toilette des Restaurants ins Gedächtnis zurückzurufen. Hatte er eine Perücke und einen falschen Bart getragen? Das wusste er nicht sicher. Beschwören hätte er jedoch können, dass der Mann eine Bomberjacke aus dunklem Wildleder und eine schwarze Hose getragen hatte. Aus diesem Blickwinkel konnte Bourne das Gesicht des anderen nicht sehen, aber er war jedenfalls weit jünger, als der Mann auf der Toilette des Restaurants gewirkt hatte.
Er hatte zusätzlich noch etwas an sich, aber was? Bourne studierte das Gesicht des Mannes sekundenlang von der Seite aus, dann wusste er’s plötzlich. In seiner Erinnerung blitzte ein Bild des Mannes auf, der ihn auf Conklins Anwesen im Wald überfallen hatte. Die Form dieses Ohrs, die tiefbraune Farbe, die Drehung der Ohrmuschel. das alles war unverkennbar.
Großer Gott, sagte er sich plötzlich desorientiert, das ist der Mann, der auf dich geschossen, der’s fast geschafft hat, dich in der Höhle in Manassas umzulegen! Wie hatte der andere ihm bis hierher folgen können, obwohl er’s geschafft hatte, alle Leute abzuschütteln, die Agency und State Police gegen ihn aufgeboten hatten? Bourne erschauerte einen Augenblick. Was für eine Art Mann konnte das schaffen?
Er wusste, dass es nur eine Möglichkeit gab, das herauszubekommen. Aus Erfahrung wusste er, dass man einen gefährlichen Gegner nur dann richtig einschätzen konnte, wenn man etwas tat, das er ganz sicher nicht erwartete. Trotzdem zögerte er zunächst noch. Mit einem solchen Gegenspieler hatte er’s noch nie zu tun gehabt. Er war sich darüber im Klaren, dass er in dieser Beziehung Neuland betreten hatte.
In diesem Bewusstsein stand er auf, durchquerte langsam und bedächtig den Park und setzte sich neben den Mann, dessen Gesicht entschieden asiatische Züge aufwies, wie Bourne jetzt sah. Zur Ehre des anderen musste gesagt werden, dass er nicht zusammenzuckte und sich keinerlei Überraschung anmerken ließ. Er beobachtete weiter den kleinen Jungen. Als das Eis zu schmelzen begann, zeigte sein Vater ihm, wie er die Waffel drehen musste, um das herunterlaufende Eis abzulecken.
«Wer bist du?«, fragte Bourne.»Warum willst du mich ermorden?«
Der Mann sah weiterhin geradeaus, ließ sich nicht im Geringsten anmerken, dass er gehört hatte, was Bourne gesagt hatte.»Was für eine heitere Szene eines friedlichen
Familienlebens. «In seiner Stimme lag ein sarkastischer Unterton.»Ich frage mich, ob das Kind weiß, dass sein Vater es jeden Augenblick ohne Vorwarnung verlassen könnte.«
Bourne spürte eine eigenartige Reaktion darauf, die Stimme des anderen in dieser Umgebung zu hören. Als sei er aus dem Schatten getreten, um wahrhaftig im Alltag der anderen Menschen zu existieren.
«Auch wenn du mich unbedingt kaltmachen willst«, sagte Bourne,»kannst du mir hier in der Öffentlichkeit nichts anhaben.«
«Wie alt ist der Junge wohl? Ungefähr sechs, würde ich sagen. Viel zu klein, um den Sinn des Lebens zu verstehen, viel zu klein, um zu begreifen, weshalb sein Vater ihn verlassen könnte.«
Bourne schüttelte den Kopf. Das Gespräch verlief durchaus nicht so, wie er es sich vorgestellt hatte.»Wie kommst du darauf? Weshalb sollte der Vater seinen Sohn verlassen?«
«Eine interessante Frage, zumal wenn sie von einem Mann mit zwei Kindern kommt. Jamie und Alison, nicht wahr?«
Bourne fuhr zusammen, als habe der andere ihm ein Messer in die Rippen gestoßen. Angst und Wut brodelten in ihm, aber er ließ nur seine Wut an die Oberfläche steigen.»Ich will nicht mal fragen, woher du so viel über mich weißt, aber eines will ich dir sagen: Dass du meine Familie bedroht hast, war ein verhängnisvoller Fehler.«
«Oh, das brauchst du nicht zu glauben. Ich habe keineswegs vor, deinen Kindern etwas anzutun«, sagte Chan gelassen.»Ich habe mich nur gefragt, wie Jamie reagieren wird, wenn du nicht zurückkehrst.«
«Ich werde meinen Sohn nie verlassen. Ich werde tun, was nötig ist, um sicher zu ihm zurückzukehren.«
«Eigenartig, dass du hinsichtlich deiner jetzigen Familie so leidenschaftlich empfindest, nachdem du Dao, Joshua und Alyssa im Stich gelassen hast.«
Jetzt gewann die Angst in Bourne die Oberhand. Sein Herz hämmerte schmerzhaft, und er fühlte brennende Stiche in der Brust.»Wovon redest du überhaupt? Wie kommst du darauf, dass ich sie im Stich gelassen habe?«
«Du hast sie ihrem Schicksal überlassen, stimmt’s?«
Bourne hatte das Gefühl, den Bezug zur Realität zu verlieren.»Das verbitte ich mir! Sie waren tot! Sie sind mir entrissen worden, und ich habe sie nie vergessen!«
Die Lippen des anderen verzogen sich zu einem schwachen Lächeln, als habe er einen Sieg erzielt, indem er Bourne über eine unsichtbare Grenze gezerrt hatte.»Nicht einmal, als du Marie geheiratet hast? Nicht einmal, als Jamie und Alison geboren wurden?«Seine Stimme klang gepresst, als kämpfe er darum, etwas tief in seinem Inneren Aufwallendes unter Kontrolle zu halten.»Du hast versucht, Joshua und Alyssa zu reproduzieren. Du hast ihnen sogar Vornamen mit den gleichen Anfangsbuchstaben gegeben.«
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