Randy sagte gar nichts. Jetzt, da sie tatsächlich in The Oaks waren, machte er sich schreckliche Sorgen, dass Lester sauer auf ihn sein würde, weil er seinem Vater von ihm erzählt hatte. Und was war mit den anderen, den gemeingefährlichen Leuten in der Wand, die hinter Schloss und Riegel gehörten?
Sie erreichten das erste Stockwerk. Einen Moment lang dachte Randy, dass er wieder jemanden singen hörte:
Lavendelblau, dideldei;
Lavendel, hier gehör ich hin.
Hier bin ich König, dideldei;
Und du wirst Königin.
Jack hielt inne, legte den Kopf schräg und lauschte.
»Hast du das gehört?«, fragte er Karen.
»Jack, Schätzchen, deine Fantasie geht mit dir durch«, erwiderte sie nur.
Doch Randy mischte sich ein: »Ich habe etwas gehört. Jemanden, der singt.«
»Ich auch«, bestätigte Jack. Er begann, langsam den östlichen Gang entlangzulaufen, und rüttelte an sämtlichen Türen, obwohl er von seinem letzten Besuch noch wusste, dass sie allesamt verschlossen waren. Von Zeit zu Zeit leuchtete er mit der Taschenlampe durch eines der Schlüssellöcher und spähte hinein.
»Hier ist jemand«, sagte er leise. »Da bin ich mir ganz sicher.«
»Na, und wer? «, wollte Karen wissen. »Und wo ist er?« Trotz ihrer Ungewissheit kam sie klipp-klapp auf ihn zustolziert, um ihn am Arm zu packen. »Weißt du was? Ich hasse diesen Ort wirklich. Er erinnert mich an das Krankenhaus, in dem meine Großmutter gestorben ist.«
Doch Jack lief weiter durch den Gang und rüttelte an sämtlichen Türgriffen, lugte durch die Schlüssellöcher, beschleunigte dabei seinen Schritt. Er konnte regelrecht spüren, dass da jemand war. Das ganze Gebäude schien ein lebendiges Wesen zu sein, wie während eines Erdbebens. Die Wände hallten dumpf; es war ein tiefes, polterndes Rumpeln. Ein Gefühl gespannter Erwartung, das so stark war, dass er es fast schon einzuatmen schien.
»Daddy!«, schrie Randy. Jack richtete den Lichtkegel auf das Ende des Gangs, gerade noch rechtzeitig, um einen Blick auf einen grau-weißen Umhang zu erhaschen, der in Richtung Treppe verschwand.
Karen hatte nichts gesehen. »Was war denn da?«, rief sie mit vor Schreck geweiteten Augen.
Doch Jack hatte schon ihre Hand gepackt und zog sie hinter sich her, während er in halsbrecherischem Tempo die Verfolgung aufnahm. Randy kam ihnen nachgelaufen und schnaufte vor Angst und Anstrengung.
Sie erreichten das Ende der Treppe. Jack sah einen grau-weißen Schemen. Das Kind war nach oben geflohen. Er wollte ihm gerade folgen, als Karen ihn am Ärmel zog und aufhielt. »Meine Schuhe!«, jammerte sie, während sie auf einem Bein hüpfte und versuchte, sie auszuziehen. »Ich kann doch nicht mit hohen Absätzen rennen.«
»Schon gut, schon gut.« Jack hielt sich am Treppengeländer fest und stützte sie, während sie sich im Eiltempo die Schuhe auszog. Randy stand neben ihnen und versuchte, wieder zu Atem zu kommen.
»Hast du dieses Kind schon mal gesehen?«, wollte Jack von seinem Sohn wissen.
Randy nickte. »Es war oben und ich habe es auch draußen im Garten gesehen, als wir weggefahren sind. Es winkte mir zu, aber es hatte kein Gesicht.«
»Hatte kein Gesicht? «, wiederholte Karen und rümpfte die Nase. »Was meinst du damit? Es hatte kein Gesicht?!«
»Ich weiß nicht. Es trug einen Umhang oder so.«
Jack sagte: »Ich habe dasselbe Kind auch schon gesehen. Wenn es ein Kind ist. Erst auf dem Highway. Das war das Kind, von dem ich euch erzählt habe, das, wegen dem ich den Unfall gebaut habe.«
»Du meinst den Balg, der sich hinterher als Zeitung entpuppt hat?«, hakte Karen nach.
Jack sagte: »Genau den.«
»Und diesmal soll es keine Zeitung sein? Oder eine Eule? Oder in diesem Fall noch viel wahrscheinlicher eine Ratte?«
Jack sah Randy an und zuckte die Achseln. »Vielleicht hast du recht, vielleicht ist es so. Nur ein paar Überreste einer Zeitung.«
»Aber es ist hochgerannt«, protestierte Randy. »Ich habe es genau gesehen. Es ist hochgerannt.«
»Könnte auch ein Eichhörnchen gewesen sein, das eine Zeitung zu seinem Nest schleppt«, gab Jack zu bedenken.
Randy starrte ihn im Schein der Taschenlampe an. Es war eindeutig zu sehen, dass er seinem Vater das nicht abkaufte. Ein Eichhörnchen, das eine Zeitung nach oben schleppte? Aber was zum Teufel sollte es denn sonst sein? Niemand konnte Jack ernsthaft erzählen, dass hier wirklich ein Kind hauste, das in einem grau-weißen Regenmantel von Stockwerk zu Stockwerk flitzte. Nicht dass es hinterher noch ein Geist war, verflixt noch mal.
Karen erklärte: »Ich will nach Hause. Dieser Ort ist mir nicht geheuer.«
Jack ergriff ihre Hand und drückte sie aufmunternd. Dann leuchtete er mit der Mini-Maglite nach oben. »Na kommt, es wird schon nichts Schlimmes sein. Selbst wenn es ein Kind sein sollte, wir haben ja wohl keine Angst vor Kindern, oder?«
»Jack«, sagte Karen. »wenn es ein Kind ist, dann wird es sicher nicht allein hier leben, meinst du nicht auch? Dann sind seine Eltern sicher ganz in der Nähe. Zumindest ein Elternteil. Vielleicht dieser Gruseltyp Lester.«
Jack nahm eine Stufe nach oben. »Ach, komm«, redete er auf sie ein. »Hier gibt es nichts, wovor man Angst haben müsste. Das ist doch nur ein altes Gemäuer, weiter nichts.«
»Jack, nein! « , widersprach sie und versuchte, ihre Hand freizubekommen. »Ich habe Angst.«
Jack wollte sie wieder hinter sich herziehen, aber sie hielt dagegen. Er wandte sich an Randy. »Und was ist mit dir, Randy? Hast du auch Angst?«
Randy schluckte. »Nein, Sir«, antwortete er mit dünner, tonloser Stimme.
»Na also«, grinste Jack. »Zwei zu eins. Wir haben keine Angst. Du bist überstimmt, Karen. Wir haben keine Angst, also wagen wir uns weiter vor.«
»Jack …«, protestierte Karen.
»Was willst du denn stattdessen tun?«, wollte er von ihr wissen. »Allein und ohne Taschenlampe wieder die Treppe hinunterschleichen?«
Sie zögerte und nickte dann. »Okay, okay. Aber das werde ich nicht so schnell vergessen. Ich habe Dunkelheit schon immer gehasst. Mein Daddy hat mich nämlich immer im Dunkeln eingeschlossen und ich schrie und schrie, aber er kam nie.«
Sie erklommen die nächste Treppe, dann die übernächste, bis sie den Dachboden erreichten. Der Essiggeruch war überwältigend stark und in der Luft lag eine merkwürdige, undefinierbare Spannung. Jack leuchtete den Flur ab. Der Lichtstrahl reflektierte im Zickzack von den Türen zu den Wänden und zur Decke.
»Es war irgendwo in der Mitte«, erklärte Randy. »Die erste Tür, die offenstand.«
Karen sagte: »Wenn wir hier jemanden finden, Jack, dann bin ich weg. Ich hau sofort hier ab, Taschenlampe hin, Taschenlampe her, das sag ich dir.«
Er klopfte ihr mit gespielter Gelassenheit auf die Schulter. »Ach, komm schon, Karen, wird schon alles gut gehen.« Ihm selbst schnürte nackte Angst regelrecht die Luft ab, aber gleichzeitig verspürte er einen starken Drang weiterzugehen. Wenn da jemand war, wollte er mit ihm reden. Er wollte wissen, was derjenige hier zu suchen hatte und was er über das Gebäude wusste. Hier gab es so viele unerforschte Geheimnisse. Warum hatten alle Skulpturen ihre Augen geschlossen? Warum waren die Fenster mit Netzen versehen und alle Türen verriegelt?
Und warum hatte man das Haus 1926 so abrupt geräumt und seither weder betreten noch ernsthaft nach einem Käufer gesucht, sondern einfach sich selbst überlassen?
Das ungleiche Trio ging den Gang hinunter, Jack vorneweg. Schließlich erreichten sie die halb geöffnete Tür und den Raum, in dem Randy auf Lester gestoßen war. Sie hielten an. Jack fragte: »Da drin?«, und leuchtete hinein. Das Zimmer schien völlig verlassen zu sein.
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