»Es gehört Joe.«
»Warum hältst du dich daran fest?«
Carter hatte keinen Schimmer. Er wusste nicht einmal, wo er es plötzlich herhatte.
»Wenn es Joe gehört, möchte er es vielleicht haben«, sagte Beth. »Vielleicht sollten wir es ihm ins Krankenhaus bringen.«
Verblüfft starrte Carter das Kreuz an. »Ja, das mache ich«, sagte er. »Morgen.«
Nach all dem wusste Carter, dass er unmöglich wieder einschlafen konnte. Er zog einen Bademantel über das T-Shirt und die Boxershorts, schlüpfte in seine Gummi-Flip-Flops und ging in die Küche. Seine Kehle war wie ausgedörrt, vielleicht vom angestrengten Atmen, und er nahm sich ein Bier aus dem Kühlschrank. Die Kühle würde vielleicht seiner Kehle guttun … und den Dingen ein wenig die Schärfe nehmen.
O Mann, das war aber auch ein Albtraum gewesen! Noch nie in seinem ganzen Leben hatte er so übel geträumt – oder so etwas erlebt. Wo kam der Traum her? Und warum hatte Beth ausgerechnet in der Aeneis gelesen, selbst wenn es nur ein Traum gewesen war? Gewiss, er hatte das Werk auf dem College durchgearbeitet und sogar ein paar Aufsätze darüber geschrieben, aber er hatte seit Jahren nicht mehr daran gedacht. Jetzt, wo er genauer darüber nachsann, war er sich nicht einmal sicher, wo seine kommentierte Ausgabe abgeblieben war.
Er ging ins Wohnzimmer, nippte hin und wieder an seinem Bier und suchte die Bücher ab, die in dichten Reihen in den Regalen aus Schlackenbetonsteinen standen. Die meisten Bücher von Beth, übergroße Werke zur Kunstgeschichte, standen in den unteren Regalen, während der Großteil seiner Bücher, von Die Entstehung der Arten bis zu ornithologischen Bestimmungsbüchern, oben einsortiert war. Als er und Beth zusammengezogen waren, war ihnen rasch klar geworden, dass sie nicht genug Platz hatten, um all ihre Bücher in der Wohnung unterzubringen, so dass sie viele von ihnen in Kisten verstaut hatten. In Kisten, die jetzt im Keller standen.
Er nahm an, dass in einer von ihnen auch seine Ausgabe der Aeneis steckte. Am Morgen würde er danach suchen.
Aus müßiger Neugier nahm er eines von Beths Büchern über die Kunst der Renaissance heraus und nahm es mit zu seinem Lehnsessel. Er blätterte darin, betrachtete die kuriose Mischung aus biblischen und mythologischen Motiven und nippte an seinem Bier. Doch seine Gedanken kehrten immer wieder zur Aeneis zurück, zu den Zeilen, an die er sich aus seinem Traum dunkel erinnerte und die er bereits wieder zu vergessen begann. Etwas über einen beschatteten See und vergiftete Luft, die von ihm aufstieg. Er fragte sich, ob er sich tatsächlich so genau an einzelne Zeilen erinnern konnte. Hatte das Epos während seiner Studentenjahre einen so tiefen Eindruck bei ihm hinterlassen? Oder lag er vollkommen daneben? Erneut fragte er sich, wo das Buch wohl gelandet war. Er wollte es sehen, und aus irgendeinem Grund wollte er es jetzt sehen.
Er legte den Kunstband auf den Couchtisch und warf einen Blick auf die Uhr über dem Regal. Es war halb vier morgens. Zumindest würde er keinen Nachbarn über den Weg laufen, wenn er jetzt nach unten ginge.
Er schlich sich aus der Wohnung und nahm die Treppe. Im Treppenhaus wehte ein kalter Wind, und als er das Erdgeschoss erreichte, erkannte er den Grund dafür. Die Tür zum Foyer, die eigentlich immer geschlossen sein sollte, stand weit offen. Er stieß sie zu und wartete auf das Geräusch, mit dem der Schnapper einrastete. Dann drehte er sich um und ging ans andere Ende der Halle, wo sich die Kellertür hinter dem Fahrstuhl verbarg. Trotz der späten Stunde hörte er die Fahrstuhlkabine im Schacht rumpeln. Vielleicht hätte er nicht gerade in Bademantel und Flip-Flops aus der Wohnung gehen sollen. Es wäre ziemlich peinlich, in diesem Aufzug einem Nachbarn in die Arme zu laufen. An der Kellertür hing zwar ein Vorhängeschloss, aber Carter wusste wie alle übrigen Mieter, dass es nicht abgeschlossen war. Er entfernte das Schloss, klappte den Riegel zurück und stieg die enge Treppenflucht hinab.
Hier unten gab es zwei Waschmaschinen und einen Trockner, einen klapprigen Tisch, um die Wäsche zusammenzulegen, und einen Plastikstuhl. Der Boden bestand aus Beton, die Decke aus schmutzigen schalldämmenden Platten. Der Versuch des Hausmeisters, den Raum freundlicher zu gestalten, indem er einen Lampenschirm aus gelbem und rotem Glas über das Deckenlicht gehängt hatte, verstärkte nur noch den Eindruck der Trostlosigkeit. Im nächsten Raum stand an der Rückwand der Heizungskessel, und hier durften die Mieter ein paar Dinge lagern. Es gab ein paar Fahrräder, ein Paar Skier und einige Dutzend Kisten. Carters standen ganz hinten.
Er zog am Band an der nackten Glühbirne, die hier von der Decke hing, und betrachtete den Stapel brauner Pappkartons. Sie sahen alle gleich aus. In welchem steckten seine Bücher aus den Literatur-und Klassikkursen? Er wusste, dass es nicht der oberste war; der enthielt verschiedene Aufsätze, die er verfasst hatte, seine Doktorarbeit, kurze Zusammenfassungen und Monographien. Er nahm sie vom Stapel und hob den Deckel des nächsten Kartons an. Er entdeckte eine Reihe von Texten zu Biologie und Chemie. Er stellte den Karton auf den ersten. Der nächste Karton könnte sich als Treffer erweisen. Ganz obenauf lag Dryden, direkt darunter Chaucer. Er ließ den Karton auf den Boden plumpsen, setzte sich auf die beiden anderen und begann sich durch die eselsohrigen Bände mit Lyrik und Literatur zu wühlen. Ganz unten entdeckte er die Aeneis . Es war ein dickes Taschenbuch, mit einem Gemälde von Aeneas und Dido in Karthago auf dem Cover. Als er es erblickte, erinnerte er sich auf der Stelle, dass es von Claude Lorraine stammte. Mit einer Kunsthistorikerin verheiratet zu sein, hatte ihn ein paar Dinge gelehrt.
Aber wie sollte er die Zeilen finden, nach denen er suchte? Und warum suchte er überhaupt danach? Er hatte das überaus merkwürdige Gefühl, dass es etwas zu bedeuten hatte; dass sein Unterbewusstsein versuchte, ihn auf etwas hinzuweisen. Dass es schon eine ganze Weile versuchte, ihm etwas mitzuteilen.
Aber die Aeneis bestand aus zwölf Büchern, und jedes bestand aus Tausenden von Zeilen. Im Geiste ging er noch einmal die Zeilen aus seinem Traum durch. Es gab keine einfache Möglichkeit, um zielgerichtet im Glossar oder Index die Stelle mit einem schwarzen See oder finsteren Wäldern aufzuspüren. Jedes Wort hatte vermutlich Dutzende von Verweisen. Aber es wurden Vögel erwähnt, an der Stelle, wo es im Gedicht hieß, kein Vogel könnte über den Brodem des Sees fliegen. Carter wusste, dass es im Altgriechischen den Begriff vogellos gab, mit dem auch ein karger Ort selbst bezeichnet wurde. Er erinnerte sich, dass er den Begriff in einem seiner ersten Aufsätze über die Verbindung zwischen Vögeln und Dinosauriern verwendet hatte. Das Wort lautete aornos , und das, fand er, war ein guter Anfang.
Er schlug die hinteren Seiten des Buchs auf, und da war es, ein Verweis auf die erste Erwähnung im sechsten Buch, Zeile 323 der Mandelbaum-Übersetzung, die er benutzt hatte.
Doch dann, ehe er die Seite umblättern konnte, fiel ihm in derselben Begriffserklärung etwas ins Auge. Es war ein anderer Name für denselben kargen Ort, eine Alternative, die ihm vage vertraut vorgekommen war, seit Russo ihm die ersten Berichte über das Fossil aus Rom geschickt hatte. Avernus. Den Anmerkungen zufolge, die er jetzt las, war das der Ort, an dem die bekannte Sibylle von Cumae, die ungestüme und furchterregende Seherin der Antike, den Eingang zur Unterwelt bewachte. Die Pforte zur Hölle, wie es hieß.
Und war nicht auch dort, am Lago d’Averno, das Fossil gefunden worden, in einer Höhle, die seit Millionen von Jahren unterhalb der Wasseroberfläche lag?
Ohne sich zu rühren, saß Carter da, während ein kalter Windzug um seine Füße und Knöchel strich. Hinter dem Heizkessel vernahm er ein verstohlenes Scharren. Er hatte das Gefühl, als würde etwas Massives, ein roh behauener Block der Pyramiden zum Beispiel, endlich an seinen Platz gleiten. Etwas nahm Form an, ohne dass er indes erkennen konnte, was es war. Das Scharren ertönte erneut, und er bemerkte eine gespannte Mausefalle in der Ecke. Zeit, wieder nach oben zu gehen, dachte er. Zeit, über all das in einer wärmeren und behaglicheren Umgebung nachzudenken.
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