Carters Enttäuschung wuchs. Das war der Grund, warum normale Leute die Wissenschaft und Wissenschaftler hassten. »Dann erklären Sie mir«, sagte er beherrscht, »Ihre beste Mutmaßung. Können Sie mir, basierend auf den zur Verfügung stehenden DNA-Spuren, sagen, womit wir es hier zu tun haben?«
Permut stieß die Luft aus, und Carter wehte eine Wolke Kalziumatem entgegen. »Ich kann Ihnen sagen, womit wir es nicht zu tun haben.«
»Also gut, fangen wir damit an.«
»Wir haben keinen Homo sapiens .«
Okay, dachte Carter, zumindest machen wir Fortschritte.
»Und wir haben es mit keinem anderen bekannten Vertreter aus dem Tierreich zu tun.«
Permut langte quer über den Tisch nach dem Ordner und blätterte ein paar Seiten vor. Carter starrte auf eine wilde Mischung aus Zahlen und den vier Buchstaben C, G, T und A, die sich ohne erkennbare Ordnung endlos zu wiederholen schienen und Reihe um Reihe die Seiten füllten. Die Zahlen waren ihm ein Rätsel, doch bei den Buchstaben wusste Carter, dass sie für die vier Nukleinbasen Cytosin, Guanin, Thymin und Adenin standen. »Wenn ich mir diese Ausdrucke anschaue«, sagte Permut, »sehe ich ein Muster.«
»Gut, dass das wenigstens einer tut.«
»Am Anfang dachte ich sogar, ich hätte ein menschliches Gen-Muster vor mir. Dann sah ich genauer hin und dachte, hm, vielleicht doch nicht. Es könnte ein Säugetier sein, aber das ist alles, was wir sagen können. Dann habe ich noch genauer hingeschaut und festgestellt, dass es weder das eine noch das andere ist.«
Carter wartete, dass er zum Schluss käme.
»Sie sind der Paläontologe«, sagte Permut, »und Sie können es nennen, wie Sie wollen, aber für uns haben wir hier bereits einen Namen dafür gefunden.«
»Und der wäre?«
»Missing link.«
Das fehlende Bindeglied. »Vielen Dank«, sagte Carter trocken. »Das hilft mir ungemein.«
»Hey, erschießen Sie nicht den Boten«, protestierte Permut. »Und das war nur zur Hälfte als Scherz gemeint. Die DNA weist eine neunundneunzigprozentige Übereinstimmung mit den Genen des Homo sapiens auf. Natürlich liegen alle Unterschiede in den letzten ein oder zwei Prozent.«
»Wie beim Schimpansen?«, fragte Carter.
»Es ist sogar noch näher mit uns verwandt – so nah wie nur irgend möglich, ohne tatsächlich übereinzustimmen.«
Carter holte tief Luft. Was hatte er da im Stein gehabt? Nach allem, was er gerade erfahren hatte, wurde der Verlust des Fossils noch schmerzlicher.
»Tut mir leid«, sagte Permut, der Carters Niedergeschlagenheit spürte. »Falls es noch etwas gibt, was ich für Sie tun kann, helfe ich Ihnen gerne weiter.«
»In der Tat«, sagte Carter und fischte müde nach dem Plastikbeutel, den Ezra ihm gegeben hatte. »Hier.« Er holte den Beutel aus der Tasche und legte ihn auf den Tisch.
»Was ist das?«, fragte Permut. »Noch so eine harte Nuss?«
»So ähnlich.«
Permut nahm die Tüte und hielt sie ins Licht, um das kleine Fragment der Schriftrolle darin zu betrachten. »Zumindest ist es dieses Mal kein Knochen.«
»Es ist ein Stück von einem uralten Dokument«, sagte Carter vorsichtig, als wollte er keine Hinweise auf seine eigenen Thesen oder Mutmaßungen geben. »Ich muss wissen, wie alt es ist, woraus es gemacht ist und woraus die Tinte besteht.«
»Ich hatte schon befürchtet, Sie würden von mir wissen wollen, was diese Schnörkel besagen.«
»Nein, darum kümmert sich jemand anders.«
Permut sah ihn lange an. »Wird dieser Jemand auch für die Laborkosten aufkommen? Für den letzten Auftrag hatten wir eine unterschriebene Genehmigung von Ihrem Fachbereichsleiter Stanley Mackie. Wer wird für diese Probe hier unterschreiben? Die Laborkosten können sich leicht auf ein paar Tausender summieren.«
»Sie werden bezahlt.«
Permut wirkte beeindruckt. »Sie müssen mir unbedingt bei Gelegenheit Ihren Spender verraten.« Den Beutel in der Hand, schwenkte er mit seinem Stuhl herum, bereit, loszulegen, dann wandte er sich wieder Carter zu. »Werde ich dafür in die Annalen der Wissenschaft eingehen?«
»Ich werde sehen, was sich machen lässt«, sagte Carter. »Liefern Sie mir erst einmal so schnell wie möglich die Ergebnisse.«
Auf dem Weg zum St. Vincent’s Hospital kaufte Carter an einem Kiosk mit internationaler Presse ein paar italienische Zeitschriften. Obwohl er wusste, dass Joe der Sinn eher nach Scientific American als nach GQ stand, würde er sich mit dem bescheiden müssen, was er bekommen konnte.
Auf der Intensivstation bekam er es einen Moment lang mit der Angst zu tun, als eine Krankenschwester ihm erklärte, dass Russo nicht länger dort sei.
»Er wurde verlegt«, fügte sie hinzu. »Er ist jetzt in der Station für Verbrennungsopfer, eine Etage höher.«
»Heißt das, dass es ihm besser geht?«
Sie hob den Blick von ihrem Schreibtisch. »Es ist die Intensivstation für Brandopfer.«
Carter begriff, was sie meinte.
Doch als er nach oben kam, stellte er fest, dass es zumindest eine kleine Verbesserung war. Die Atmosphäre war weniger frostig und abweisend. Hier ertönte leise Musik aus den Deckenlautsprechern, und es gab ein paar Münzautomaten mit Getränken und Snacks für die Besucher. Er entdeckte Dr. Baptiste, als sie gerade aus einem Zimmer am Ende des Flures kam, und fragte sie, ob Joe hierhergebracht worden sei.
»Ja, wir haben ihn heute Morgen verlegt. Sein Zustand ist jetzt stabil, und wir können bald mit den Hauttransplantationen beginnen.«
Bei dem Gedanken zuckte Carter zusammen.
»Sie haben recht, es wird nicht gerade ein Zuckerschlecken für ihn. Wenn seine Familie kommen und ihn besuchen möchte, wäre jetzt ein sehr guter Zeitpunkt.«
»Die einzige lebende Verwandte ist seine Mutter«, sagte Carter, »und die ist selbst zu krank, um Italien zu verlassen.«
Dr. Baptiste schüttelte den Kopf. »Dann hat er ja großes Glück, Sie zum Freund zu haben.«
Wenn sie wüsste, dachte Carter. Wenn sie bloß wüsste. »Kann ich ihn besuchen? Ich habe ihm ein paar Zeitschriften mitgebracht.«
Sie blickte auf die Titel und runzelte die Stirn. »Sieht nicht so aus, als träfe das genau seinen Geschmack«, sagte sie, »aber gehen Sie ruhig hinein.«
Im Zimmer fand er Joe in einem Bett mit hochgestelltem Kopfteil. Er war allein im Raum, und ein Rollwagen, vollgestellt mit leeren Tellern und Aluminiumdeckeln, war zur Seite geschoben worden.
»Das«, sagte Carter und schaute sich um, »ist eine große Verbesserung.« Und das war es in der Tat. In einer Vase standen sogar ein paar Blumen, und an der Wand hing ein Weizenfeld von van Gogh. Doch das Beste von allem war ein breites Fenster, dessen Jalousien noch hochgezogen waren.
Joe selbst sah leider nicht wesentlich besser aus. Dort, wo seine Haut nicht von Verbänden bedeckt war, bildete sie ein furchtbares Flickwerk aus schwarzen und hellroten Flecken. Doch zumindest war das Plastikzelt, das bisher seinen Kopf bedeckt hatte, zurückgeschlagen.
»Ich habe dir etwas zum Lesen mitgebracht«, sagte Carter und legte die Zeitschriften vorsichtig neben Joes mit Blasen bedeckte Hand auf das Bett. Er berührte ihn nicht, aus Angst, dass der körperliche Kontakt immer noch tabu war.
»Danke«, sagte Joe mit einer Stimme, die irgendwo zwischen Flüstern und Krächzen lag.
Carter schaute kurz aus dem Fenster. Man hatte einen guten Blick auf die Autos, die am Haupteingang direkt unter ihnen entlangfuhren, und einen beinahe unverstellten Ausblick nach Süden. Das Einzige, was den Blick teilweise verstellte, war das alte Sanatorium auf der anderen Straßenseite. Die Fenster waren verbarrikadiert, und die Feuertreppen, die noch übrig waren, hingen nur noch an wenigen Stellen an der zerbröckelnden Fassade. Das Gebäude wirkte, als könnte ein kräftiger Wind es in Schutt und Asche legen. Es sei denn, die Abrissbirne war schneller.
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