Der Vogel schlug mit dem Schnabel nach ihm. Rick hatte diesen Angriff erwartet. Er rammte das Ende der Harpune in einem solchen Winkel in die Erde, dass die Spitze schräg nach oben gegen den Vogel gerichtet war. Danach ließ er die Harpune los und warf sich unter die Brust des Vogels, um nicht verletzt zu werden.
Gerade als der Maina seinen Schnabel auf Rick hinunterstieß, drang die Harpune in den Hals des Vogels ein. Jetzt zahlte es sich aus, dass Rick die Spitze so scharf wie eine chirurgische Nadel geschliffen und mit reichlich Gift bestrichen hatte. Die Waffe durchdrang mit Leichtigkeit das Federkleid und die Haut des Vogels und blieb in dessen Fleisch stecken. Der Maina wich zurück, während die Harpune von seinem Hals herunterbaumelte. Der Vogel schüttelte den Kopf und versuchte die Harpune loszuwerden, während Rick schnell davonkroch. Schließlich setzte er sich auf und zog seine Machete. »Komm her und kämpfe!«, rief er dem Vogel zu.
Karen hörte Ricks Stimme. Sie war kurzzeitig ohnmächtig gewesen. Jetzt kam sie wieder zu sich. Sie begann zu hyperventilieren, versuchte mit aller Macht genug Luft in ihre Lungen zu bekommen, was ihr aber immer weniger gelang. Eigentümliche Lichtblitze vor ihrem Auge warnten sie vor dem Sauerstoffentzug. Plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie die Sprühflasche immer noch in ihrer Faust hielt. Sie drückte auf den Pumpzerstäuber und fühlte sofort ein schreckliches Brennen, als sich die chemischen Stoffe um sie herum ausbreiteten. Ihre Muskeln verspannten sich noch weiter, und die Blitze im Auge verwandelten sich in Nebel und dann ins Nichts –
Dem Maina ging es überhaupt nicht gut. Erst die Harpune, und jetzt noch dieses unangenehme Gefühl in seinem Kropf. Er übergab sich.
Karen King landete im Moos, und der Vogel machte sich davon.
Sie war bewusstlos. Rick kniete sich neben sie und fühlte ihr am Hals den Puls. Er spürte, dass ihr Herz immer noch schlug. Er presste seinen Mund auf den ihren und blies seinen Atem in ihre Lungen.
Man hörte ein kratzendes, schnarrendes Geräusch, und sie begann wieder selbstständig zu atmen. Sie hustete und öffnete die Augen.
»Ohh.«
»Atme weiter, Karen. Du bist okay.«
Ihre Faust umschloss immer noch krampfhaft die Sprühflasche. Rick brach sie ganz sanft auf und holte die Flasche heraus. Dann schleppte er Karen unter einen Farn. Dort half er ihr, sich aufzusetzen, und nahm sie vorsichtig in den Arm. Ihre Kleidung und ihre Haare waren immer noch glitschig und schleimig von den Flüssigkeiten aus dem Vogelkropf. »Atme tief durch«, sagte er. Er strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht und glättete ihr Haar. Er wusste nicht, wo die Vögel waren, ob sie immer noch in dieser Gegend jagten oder weitergezogen waren. Zumindest drangen ihre Schreie inzwischen aus weiterer Ferne zu ihnen. Er platzierte Karen mit dem Rücken an einen Farnstängel und setzte sich mit angezogenen Knien neben sie, den Arm um ihre Schultern.
»Vielen Dank, Rick.«
»Bist du verletzt?«
»Mir ist nur ein wenig schwindlig.«
»Du hast nicht mehr geatmet. Ich dachte schon, du seist …«
Die Schreie der Vögel wurden immer schwächer. Der Schwarm war weitergezogen.
Als sich Karen einigermaßen erholt hatte, fasste Rick zusammen, was von ihrer Ausrüstung noch übrig war. Ihr Überleben war jetzt aufs Äußerste gefährdet. Der Hexapod war abgestürzt. Erika war tot. Die meisten ihrer Vorräte waren zusammen mit dem Laufroboter in die Tiefe gestürzt. Die Harpune steckte im Hals des Maina, der davongeflogen war. Der Rucksack, den Karen aus dem Generatorraum mitgenommen hatte, lag allerdings noch neben dem Tümpel. Außerdem besaßen sie noch das Blasrohr und das Curare. Eine einzige Machete war ihnen geblieben. Danny Minot war nirgends zu sehen.
Dann war jedoch von weit oben seine Stimme zu hören. In seiner Panik war er an einer Schlingpflanze emporgeklettert und schließlich an der Spitze der Felswand angelangt. Sie sahen ihn dort oben kauern und mit seinem gesunden Arm herunterwinken. »Ich kann den Großen Felsen sehen! Wir sind fast da!«
31. OKTOBER, 10:20 UHR
Drake hatte die Kommunikationszentrale übernommen. Er starrte auf den Bildschirm des Fernortungssystems, das gerade den Hexapod anpingte. Im Moment war er über das, was er da auf dem Monitor sah, ziemlich erstaunt. Das Fadenkreuz, das die ungefähre Position des Laufroboters anzeigte, hatte sich gerade mit einem Schlag um hundertfünfzig Meter nach unten bewegt. Zuerst vermutete er einen Systemfehler. Der Pinger arbeitete vielleicht nicht mehr genau, dachte er. Aber während er so dasaß und wartete, den Roboter weiterhin anpingte und auch entsprechende Rückmeldungen erhielt, veränderte sich die Lage der Laufmaschine um keinen einzigen Meter. Der Hexapod bewegte sich nicht mehr. Er wartete noch etwas länger. Er hatte sich immer noch nicht bewegt.
Er gönnte sich ein leichtes Lächeln. Ja. Sah so aus, als ob das verdammte Ding die Felswand hinuntergefallen wäre. Das musste es doch sein. Die Laufmaschine war in die Tiefe gestürzt. Sie hatten irgendeinen Fehler begangen, und die Maschine war abgestürzt. Und jetzt bewegte sie sich nicht mehr.
Er wusste, dass der Körper eines Mikromenschen jeden Sturz überleben konnte, wie tief er auch sein mochte. Aber die Tatsache, dass sich das Gefährt nicht mehr bewegte, bedeutete zumindest, dass es schwer beschädigt war. Vielleicht war es auch zerstört.
Unter den Überlebenden musste inzwischen die totale Panik ausgebrochen sein, wurde ihm klar. Sie kamen Tantalus einfach nicht näher. Und die Tensor-Krankheit würde sie bald in die Fänge bekommen. Besonders wohl fühlten die sich bestimmt nicht.
Er rief Makele an. »Waren Sie in der Tantalus-Basis?«
»Ja.«
»Und?«
»Ich habe nichts gemacht. Musste ich auch nicht. Sie ist –«
»Sie werden sowieso nicht dort ankommen. Sie sind abgestürzt, die armen Kerle.«
Kapitel 35
KALIKIMAKI-INDUSTRIEGELÄNDE
31. OKTOBER, 10:30 UHR
Lieutenant Dan Watanabe parkte seinen braunen Ford auf dem einzigen Abstellplatz, der laut Markierung für BESUCHER vorgesehen war. Neben Nanigens Metallgebäude stand auf der einen Seite das Bauskelett eines halb fertigen Lagerhauses. Auf der anderen lag ein unbebautes Grundstück, das dicht von Akaziensträuchern überwuchert war. Vor dem Lagerhaus bemerkte er eine leere Fläche, die offensichtlich frisch geschottert worden war. Er ging hinüber und hob ein paar Schottersplitter auf. Zermahlener Kalkstein. Interessant. Sah wie das Zeug aus, das sich in den Reifenprofilen von Privatdetektiv Rodriguez’ Auto verfangen hatte. Er steckte sich ein paar Steinchen in seine Hemdtasche. Dorothy Girt sollte einen Blick darauf werfen.
Der Parkplatz direkt vor Nanigens Hauptquartier stand voller Autos.
»Wie läuft das Geschäft?«, fragte er die Dame am Empfang.
»Da bin ich nicht so informiert.«
Auf einem Tisch verströmte eine Kaffeemaschine den sauren Geruch von Kaffee, der seit mehreren Stunden vor sich hin köchelt.
»Soll ich Ihnen einen Kaffee machen?«, fragte die Rezeptionistin.
»Ich glaube, das haben Sie schon.«
Der Sicherheitschef des Unternehmens kam herbei. Don Makele war ein stämmiger Mann, ein einziges Muskelpaket. »Irgendwas Neues über die vermissten Studenten?«, fragte er Watanabe.
»Könnten wir das in Ihrem Büro besprechen?«
Als sie den inneren Teil des Gebäudes betraten, kamen sie an vielen verschlossenen Türen vorbei. Die Fenster in den Wänden blickten in Räume hinein, waren jedoch alle mit schwarzen Jalousien verhängt. Warum waren diese Jalousien alle heruntergelassen? Warum waren sie schwarz? Beim Weitergehen hörte Watanabe ein Brummen, eine Vibration, die durch den Fußboden heraufkam. Dieses ganz spezielle Brummen bedeutete, dass in diesem Gebäude eine Menge Wechselstrom floss. Wozu?
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