Für Jr.
Um uns herum wimmelt es von winzigen Lebewesen. Sie sind Objekte potenziell unendlicher Erforschung und Bewunderung, wenn wir bereit sind, unseren Blick statt geradeaus in die Ferne nach unten zu richten, um die Welt einzubeziehen, die nur eine Armeslänge entfernt ist. Man kann ein ganzes Leben auf einer Magellanschen Entdeckungsreise um den Stamm eines einzigen Baumes verbringen.
E. O. Wilson
In was für einer Welt leben wir?
Der berühmte Tierfilmer David Attenborough äußerte sich kürzlich besorgt darüber, dass die Schulkinder von heute nicht einmal mehr die Namen häufig vorkommender Pflanzen und Insekten kennen, während frühere Generationen damit keine Probleme hatten. Offenbar ist es Kindern heute nicht mehr möglich, Natur direkt zu erleben und in freier Natur zu spielen. Dafür werden verschiedene Gründe angeführt: Die Kinder wachsen in der Stadt auf, es gibt kaum noch naturbelassene Gebiete, die Kinder verbringen zu viel Zeit am Computer und im Internet und haben einen vollen Terminplan. Alles läuft jedenfalls darauf hinaus, dass Kinder nicht mehr mit der Natur in Berührung kommen und keine unmittelbaren Erfahrungen in der Natur machen. Und das ironischerweise in einer Zeit, in der im Westen das Umweltbewusstsein wächst und immer ehrgeizigere Maßnahmen zum Umweltschutz erlassen werden.
Kinder im Sinne des Umweltschutzes zu erziehen ist ein Kerngedanke der Umweltschutzbewegung, entsprechend wird Kindern nun beigebracht, etwas zu schützen, von dem sie keine Ahnung haben. Dieser Ansatz ist zwar gut gemeint, hat der Umwelt bisher jedoch mehr geschadet als genützt – als wichtige Beispiele sind die Vernachlässigung der amerikanischen Nationalparks oder die Maßnahmen zur Verhinderung von Waldbränden in den USA zu nennen. Eine derartige Politik hätte sich nie umsetzen lassen, wenn die Menschen die Natur, die sie zu schützen versuchen, wirklich kennen würden.
Dabei dachte der Mensch tatsächlich, er wüsste Bescheid. Und man kann annehmen, dass die neue Generation Schulkinder noch überzeugter von sich sein wird. Heute wird in den Schulen gelehrt, dass es eine Antwort auf jede Frage gibt; erst im wahren Leben erkennen die Jugendlichen, dass vieles im Leben ungewiss und geheimnisvoll ist und der Mensch manches einfach nicht weiß. Wenn man Gelegenheit hatte, in der freien Natur zu spielen, wenn man von einem Käfer mit stinkendem Sekret bespritzt wurde, wenn man erlebt hat, wie die Farbe eines Schmetterlingsflügels an den Fingern haften bleibt, wenn man gesehen hat, wie eine Raupe ihren Kokon spinnt, bekommt man ein Gefühl für das Geheimnisvolle und Ungewisse. Je mehr man beobachtet, desto geheimnisvoller wirkt die Natur und desto mehr erkennt man, wie wenig man eigentlich weiß. Neben der Schönheit lernt man, dass es in der Natur auch Fruchtbarkeit gibt, Verschwendung, Aggressivität, Rücksichtslosigkeit, Schmarotzertum und Gewalttätigkeit – Eigenschaften, die in den Lehrbüchern vernachlässigt werden.
Die wichtigste Lehre, die man aus der direkten Erfahrung zieht, ist vermutlich die, dass die Natur mit all ihren Elementen und Verbindungen ein komplexes System darstellt, das man nicht verstehen, geschweige denn vorhersehen kann. Man macht sich etwas vor, wenn man sich so benimmt, als ob man es könnte, so wie jemand, der glaubt, er könnte die Entwicklung am Aktienmarkt vorhersehen, der ein ähnlich komplexes System darstellt. Wenn jemand behauptet, er könne den Kurs einer Aktie vorhersagen, wissen wir, dass er entweder ein Betrüger oder ein Scharlatan ist. Wenn ein Umweltschützer ähnliche Behauptungen über die Natur oder ein Ökosystem aufstellt, haben wir noch nicht gelernt, in ihm einen falschen Propheten oder einen Dummkopf zu sehen.
Der Mensch interagiert sehr erfolgreich mit komplexen Systemen. Das tun wir ständig. Aber wir interagieren mit ihnen, ohne zu behaupten, dass wir sie verstehen. Manager interagieren mit dem System: Sie tun etwas, warten die Reaktion ab und tun dann etwas anderes, um das gewünschte Resultat zu erzielen. Ein sich ständig wiederholender Prozess, bei dem man zugibt, dass man nicht sicher wissen kann, wie das System reagieren wird – man muss abwarten und schauen, was kommt. Wir haben vielleicht eine Ahnung. Vielleicht haben wir sogar meistens recht. Aber wir können uns nie sicher sein. Im Umgang mit der Natur ist uns Gewissheit verwehrt. Und das wird auch immer so bleiben.
Wie können junge Menschen nun Erfahrungen in der freien Natur sammeln? Idealerweise bei einem Aufenthalt im tropischen Regenwald – diesem enormen, unwirtlichen, beunruhigenden und faszinierenden Gebiet, das uns schnell eines Besseren belehrt, was unsere vorgefassten Meinungen betrifft.
Unvollendeter Text
Michael Crichton, 28. September 2008
Die sieben Forschungsstudenten
RICK HUTTER Ethnobotaniker, der von Eingeborenenvölkern verwendete Arzneimittel untersucht.
KAREN KING Arachnologin (Expertin für Spinnen, Skorpione und Milben). Erfahrene Kampfsportlerin.
PETER JANSEN Experte für Gifte und Vergiftungen.
ERIKA MOLL Entomologin und Koleopterologin (Käferforscherin).
AMAR SINGH Botaniker mit dem Spezialgebiet Pflanzenhormone.
JENNY LINN Biochemikerin, Expertin für Pheromone, den von Tieren und Pflanzen benutzten Botenstoffen.
DANNY MINOT Doktorand, der gerade eine Doktorarbeit über »wissenschaftliche linguistische Codes und Paradigmenwechsel« schreibt.
9. OKTOBER, 23:55 UHR
Westlich von Pearl Harbor fuhr er durch die im Mondlicht dunkelgrün schimmernden Zuckerrohrfelder den Farrington Highway hinunter. Das hier war zwar seit Langem die Ackerbaugegend der Insel Oahu, in letzter Zeit jedoch hatte sich einiges geändert. Auf der linken Seite hoben sich die silbern glänzenden flachen Stahldächer des neuen Kalikimaki Industrial Park von ihrer grünen Umgebung ab. Marcos Rodriguez wusste jedoch, dass es mit der Industrie in diesem Gewerbegebiet nicht weit her war. Die meisten Gebäude waren billig zu mietende Lagerhäuser. Außerdem gab es dort noch ein Schiffsbedarfsgeschäft, einen Mann, der maßgefertigte Surfbretter herstellte, ein paar Maschinenwerkstätten und eine Schlosserei. Das war so ziemlich alles.
Und dann war da noch das, weswegen er heute Nacht hier war: Nanigen MicroTechnologies, ein neues Unternehmen, das gerade erst vom Festland hierhergezogen war und seinen Sitz jetzt in einem großen Gebäude am äußersten Ende des Gewerbegebiets hatte.
Rodriguez bog von der Hauptstraße ab und fuhr die dunkel und still daliegenden Geschäftsbauten entlang. Es war fast Mitternacht. Das Industriegelände war menschenleer. Er parkte vor Nanigen.
Von außen sah das Nanigen-Gebäude wie alle anderen aus: eine einstöckige Stahlfassade und ein flaches Wellblechdach. Im Grunde war es nur ein riesiger, billig und schnell errichteter Kasten. Rodriguez wusste jedoch, dass dies beileibe nicht alles war. Vor dem Bau hatte das Unternehmen ein tiefes Loch in das Lavagestein graben lassen und dieses mit einer Menge elektronischer Geräte gefüllt. Erst danach hatte man diese unscheinbare Fassade errichtet, die jetzt von dem feinen roten Staub bedeckt war, der von den benachbarten Äckern herüberwehte.
Rodriguez zog seine Gummihandschuhe an und steckte seine Digitalkamera mit ihrem Infrarotfilter in die Tasche. Dann stieg er aus. Er trug die Uniform eines Sicherheitsunternehmens. Er zog sich die Mütze tief ins Gesicht, falls irgendwelche Kameras die Straße überwachen sollten. Er holte den Schlüssel heraus, den er einige Wochen zuvor dieser Nanigen-Empfangsdame stibitzt hatte, nachdem sie von ihrem dritten Blue-Hawaii-Cocktail außer Gefecht gesetzt worden war. Er hatte ihn nachmachen lassen und ihr danach wieder in die Handtasche gesteckt, bevor sie aufgewacht war.
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