»Das wird ein großer Radius werden. Wohl fast die ganze Insel.«
»Wir tasten uns ran. In seinen Reifenprofilen haben wir frische Schottersplitter gefunden. Zermahlener Kalkstein. Kann gut sein, dass er zu einer neuen Baustelle oder so was gefahren ist. Das werden wir jedenfalls schon noch rauskriegen. Wird vielleicht eine Weile dauern, aber wir finden diesen Ort ganz bestimmt.« Watanabe schob die Zeitung quer über seinen Schreibtisch. »Und bis dahin … würde ich sagen, dass die Zeitungen recht haben. Dreifacher Selbstmordpakt, das ist alles. Zumindest für den Moment.«
Kapitel 1
DIVINITY AVENUE, CAMBRIDGE
18. OKTOBER, 13 UHR
Im Biologielabor im ersten Stock senkte der 23-jährige Peter Jansen die Metallzange ganz langsam in den Glaskäfig hinein. Plötzlich fixierte er die Kobra mit einem kurzen Stoß direkt hinter ihrer Haube. Die Schlange zischte wütend, während Jansen in den Käfig griff, sie fest hinter dem Kopf packte und diesen zum »Melkbehälter« hob. Er tränkte die Behältermembran mit Alkohol, durchstieß sie dann mit den Giftzähnen und schaute aufmerksam zu, wie die gelbliche Giftflüssigkeit in das Glas hinunterfloss.
Allerdings betrug die Ausbeute nur ein paar enttäuschende Milliliter. Jansen hätte für seine Studienzwecke eigentlich ein halbes Dutzend Kobras gebraucht, um die Mengen an Gift zu sammeln, die er für seine Untersuchungen benötigte. In diesem Labor war nur leider kein Platz für weitere Tiere. Es gab zwar eine Reptilienzuchtstation drüben in Allston, aber die Tiere dort waren ausgesprochen krankheitsanfällig. Außerdem wollte Peter seine Schlangen immer in der Nähe haben, damit er ihren Zustand ständig überwachen konnte.
Schlangengift wurde ganz leicht von Bakterien verseucht. Daher auch das Tränken der Membran mit Alkohol und das Eisbett, auf dem der Melkbehälter aufsaß. Peter erforschte die Bioaktivität ganz bestimmter Polypeptide im Kobragift. Diese Arbeiten waren Teil seines riesigen Forschungsinteresses, das unter anderem Schlangen, Frösche und Spinnen umfasste, die alle neuroaktive Giftstoffe herstellten. Seine Erfahrung mit diesen Reptilien hatte ihn zu einem »Entgiftungsspezialisten« gemacht, der gelegentlich sogar von großen Krankenhäusern gerufen wurde, um sie bei exotischen Schlangenbissen zu beraten. Was einige andere Forschungsstudenten in diesem Labor ziemlich neidisch machte. Zwischen ihnen herrschte große Konkurrenz, deshalb bekamen sie auch sofort mit, wenn jemand aus ihrer Gruppe das Interesse der Außenwelt erregte. Sie versuchten, Peter auszubremsen, indem sie klagten, es sei viel zu gefährlich, eine solche Kobra im Labor zu halten. Eigentlich dürfte sie gar nicht hier sein. Sie qualifizierten Peters Forschungen als »Arbeit mit fiesen, widerlichen Kriechtieren« ab.
Peter machte das nichts aus. Er hatte einen fröhlichen und ausgeglichenen Charakter. Er kam aus einer Akademikerfamilie, weswegen er die Lästereien auch nicht allzu ernst nahm. Seine Eltern lebten nicht mehr. Sie waren beim Absturz eines Kleinflugzeugs in den Bergen Nordkaliforniens ums Leben gekommen. Sein Vater war Geologieprofessor an der University of California in Davis gewesen, während seine Mutter in der medizinischen Fakultät in San Francisco gelehrt hatte. Sein älterer Bruder war Physiker, und seine jüngere Schwester studierte Medizin.
Peter hatte die Kobra gerade in das gläserne Terrarium zurückgelegt, als Rick Hutter herüberkam. Hutter war 24 Jahre alt und Ethnobotaniker. Seit einiger Zeit untersuchte er Analgetika, Schmerzmittel, die man in der Rinde von Urwaldbäumen fand. Wie gewöhnlich trug Rick ausgewaschene Jeans, ein Jeanshemd und schwere Stiefel. Er hatte einen gut getrimmten Bart und schaute ständig düster drein. »Mir fällt auf, dass du deine Handschuhe nicht angezogen hast«, sagte er zur Begrüßung.
»Stimmt«, sagte Peter. »Ich bin inzwischen im Umgang mit Schlangen recht geübt –«
»Bei meinen Feldstudien mussten wir immer Handschuhe tragen«, fiel ihm Rick Hutter ins Wort. Er ließ grundsätzlich keine Gelegenheit aus, die anderen in diesem Labor daran zu erinnern, dass er tatsächlich vor Ort Feldforschung betrieben hatte. Dabei klang er so, als habe er lange Jahre in den abgelegensten Winkeln des Amazonasgebiets verbracht. Tatsächlich hatte er jedoch nur vier Monate lang in einem Nationalpark in Costa Rica geforscht. »Ein Träger in unserem Team trug einmal keine Handschuhe und griff dann nach unten, um einen Stein zu entfernen. Bamm! Schon hatte eine Terciopelo ihre Giftzähne in ihn geschlagen, eine zwei Meter lange Lanzenotter. Sein Arm musste danach amputiert werden. Er hatte großes Glück, dass er überhaupt überlebte.«
»Mhm«, brummte Peter und hoffte, Rick würde wieder verschwinden. Eigentlich mochte er Rick ganz gern, aber der Junge hatte die unangenehme Angewohnheit, ständig alle anderen zu schulmeistern.
Wer Rick in diesem Labor jedoch von Herzen verabscheute, war Karen King, eine fortgeschrittene Forschungsstudentin. Karen, eine groß gewachsene junge Frau mit dunklen Haaren und eckigen Schultern, untersuchte Spinnengifte und die verschiedenen Spinnwebformen. Als sie hörte, wie Rick Peter über Schlangenbisse im Dschungel »aufklärte«, hielt sie es nicht länger aus. Von ihrem Arbeitstisch aus blaffte sie über die Schulter: »Rick, du hast damals in Costa Rica in einer Touristenlodge gewohnt. Erinnerst du dich?«
»Unsinn. Wir haben im Regenwald gezeltet –«
»Zwei ganze Nächte«, unterbrach ihn Karen, »bis die Moskitos euch in die Lodge zurückgetrieben haben.«
Rick funkelte Karen wütend an. Sein Gesicht lief rot an, und er öffnete gerade den Mund, um etwas zu sagen, unterließ es dann jedoch. Er hatte dem nämlich nichts zu entgegnen. Die Moskitos waren tatsächlich höllisch gewesen. Er hatte Angst gehabt, dass sie ihm Malaria oder Denguefieber übertragen würden, deshalb war er in die Lodge zurückgekehrt.
Anstatt sich mit Karen King zu streiten, wandte er sich jetzt wieder Peter zu: »Übrigens, ich habe läuten hören, dass dein Bruder heute vorbeikommt. Hat der nicht mit einem Start-up-Unternehmen ein Vermögen gemacht?«
»Soweit ich weiß.«
»Na ja, Geld ist nicht alles. Ich selbst würde niemals in der Privatwirtschaft arbeiten. Das ist eine intellektuelle Wüste. Die klügsten Köpfe bleiben an der Uni, dort müssen sie sich nicht prostituieren.«
Peter hatte keine Lust, mit Rick eine Diskussion zu beginnen, da dieser seine Meinungen stur zu verteidigen pflegte. Aber Erika Moll, eine erst vor Kurzem aus München hierhergekommene Entomologin, meinte jetzt: »Ich glaube nicht, dass man das so stehen lassen kann. Mir würde es zum Beispiel überhaupt nichts ausmachen, für ein Privatunternehmen zu arbeiten.«
Hutter hob entsetzt die Hände. »Seht ihr? Ich hab’s doch gesagt: Prostitution.«
Erika hatte bereits mit mehreren männlichen Angehörigen der Biologiefakultät geschlafen, und es schien ihr auch nichts auszumachen, wenn andere davon erfuhren. Jetzt zeigte sie ihm den Mittelfinger und rief: »Steck ihn dir hinten rein, Rick!«
»Ich sehe, dass du dich mit amerikanischen Obszönitäten bereits gut auskennst«, erwiderte Rick. »Neben manchem anderen.«
»Über diese anderen Dinge weißt du ganz bestimmt nichts«, blaffte sie zurück. »Und du wirst sie auch nie kennenlernen.« Sie wandte sich Peter zu. »Wie dem auch sei, ich kann an einem Job in der Privatwirtschaft nichts Falsches finden.«
»Was ist das überhaupt für ein Unternehmen, um das es hier geht?«, ließ sich jetzt eine sanfte Stimme vernehmen. Peter drehte sich um und sah Amar Singh, den Laborexperten für Pflanzenhormone. Amar war für sein entschieden praktisches Denken bekannt. »Ich meine, was stellt diese Firma her, was sie so ertragsstark macht? Das ist doch ein Biologieunternehmen. Dabei ist dein Bruder doch Physiker, oder? Wie geht denn das zusammen?«
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