»Erika, nicht!«, rief ihr Rick nach.
Erikas schnelle Bewegungen hatten die Aufmerksamkeit des Vogels erregt, und er hüpfte jetzt auf sie zu.
Karen King hatte das Ganze beobachtet und blitzschnell eine Entscheidung getroffen. Sie würde ihr Leben für Erika opfern. Nichts zu bereuen, dachte sie, stand auf und rannte mit wild wedelnden Armen auf den Vogel zu. »Hey! Nimm mich!«
Der Vogel drehte sich zu Karen um, pickte nach ihr, verfehlte sie jedoch. Karen warf sich der Länge nach zu Boden. Erika war inzwischen in den Laufroboter gesprungen und versuchte, ihn zu starten. Sie war vollkommen außer sich. Sie wusste nicht mehr, was sie tat. Sie wollte nur noch weg. Danny schrie sie an: »Stopp! Ich befehle dir, anzuhalten!« Erika beachtete ihn nicht. Der Hexapod lief los in die Felswand. Doch dort war er weithin sichtbar.
Erika ließ die anderen im Stich.
»Erika! Kehr um!«, schrie Karen.
Aber Erika hörte nichts und niemand mehr zu.
Das glänzende Gefährt, das mit seinen sechs Beinen die Felsen hinaufmarschierte, musste den Vögeln interessant oder sogar schmackhaft vorkommen. Ein Maina stürzte auf die Laufmaschine zu, griff sich Erika und zerrte sie hinter dem Steuer hervor, wobei er den Roboter in die Tiefe schleuderte. Der Hexapod stürzte die Felswand hinunter, verstreute dabei ihre gesamte Ausrüstung, kam immer wieder auf Felsvorsprüngen auf, um dann schließlich in freiem Fall im Abgrund zu verschwinden.
Der Maina landete mit Erika im Schnabel auf einer Felsplatte. Der Vogel schlug sie mehrere Male gegen die Felswand, wobei er seinen Kopf blitzschnell vor- und zurückwarf, um die Wucht der Schläge zu erhöhen und seine Beute auch ganz sicher zu töten. Der Vogel erhob sich dann mit der Leiche im Schnabel wieder in die Luft. Sofort geriet er in einen Streit mit einem anderen Maina. Sie kämpften um die Überreste von Erika Moll und rissen deren Körper schließlich mitten in der Luft auseinander.
Es war noch nicht vorbei. Rick hatte sich die Harpune besorgt und schaute sich um. Wo war eigentlich Karen? Sie lag in offenem Gelände unter einem Maina auf dem Boden. Der Vogel, der durch einen ungewöhnlichen schwarzen Streifen auf seinem Schnabel auffiel, war direkt über ihr gelandet und starrte jetzt auf Karen hinunter. Offensichtlich überlegte er, was er mit ihr anfangen sollte. War dieses Ding essbar?
»Karen!«, rief Rick und warf die Harpune auf den Vogel. Die aus einer Nadel gefertigte Waffe drang in das Federkleid des Vogels ein. Allerdings nicht sehr tief. Der Vogel schüttelte sich, und die Harpune fiel zu Boden. Der Maina versuchte immer noch, sich über Karen klar zu werden.
Sie kauerte sich zusammen und versuchte so klein und unappetitlich auszusehen wie möglich.
»Hier bin ich!«, rief Rick und rannte los. Er hoffte den Vogel dadurch abzulenken.
»Nein, Rick!«
Der Maina behielt Karen genau im Auge, während sie sprach. Dann schlug er blitzschnell zu, packte sie mit dem Schnabel, warf den Kopf zurück und verschlang sie in einem Rutsch. Dann flog er mit donnernden Flügeln davon.
»Verdammtes Vieh!«, schrie ihm Rick nach. Er schwenkte seine Harpune, während der Vogel davonflog, ein flatternder kleiner Fleck in der Ferne wurde. »Bring sie zurück!« Die Vogelschar in den Bäumen plapperte und brüllte. Welcher von ihnen Karen gefressen hatte, war unmöglich auszumachen. »Komm zurück! Ich will einen fairen Kampf!« Er hüpfte auf und ab, winkte mit den Armen und schüttelte die Harpune.
Er war den Tränen nahe. Er hätte alles getan, um den Maina mit dem gestreiften Schnabel zur Rückkehr zu bewegen. Er konnte jetzt nicht aufgeben. Er hatte sich nämlich an etwas erinnert, das er über Vögel gelernt hatte. Deren Beute gelangte nicht gleich in den Magen. Sie gelangte zuerst in den Kropf.
Kapitel 33
RAND DES TANTALUS-KRATERS
31. OKTOBER, 10:45 UHR
Karen King hatte sich im Innern des Maina-Kropfs in die Embryonalstellung eingerollt und hielt den Atem an. Die Muskelwände des Kropfs drückten auf sie und klemmten sie so fest ein, dass sie sich nicht mehr rühren konnte. Die Wände waren schleimig und übel riechend. Doch der Kropf produzierte keine Verdauungssäfte. Er war nur ein Beutel, um die Nahrung so lange aufzubewahren, bis sie zur Verdauung weitergeleitet wurde.
Sie wusste, dass der Vogel flog, da sie das regelmäßige Pochen der Brustmuskeln spürte, die seine Flügel in Bewegung setzten. Sie legte die Arme ums Gesicht und drückte sie nach außen. Dadurch konnte sie sich etwas Freiraum um die Nase und den Mund herum verschaffen.
Sie holte Atem.
Die Luft roch schrecklich, vor allem der scharfe Gestank nach verwesenden Insekten war kaum auszuhalten, aber es war wenigstens Luft. Nicht viel Luft allerdings. Nach kurzer Zeit wurde es stickig und heiß, und sie begann zu hecheln. Plötzlich überkam sie eine Welle von Klaustrophobie. Sie wollte schreien. Sie nahm all ihre Willenskraft zusammen, um sich selbst zu beruhigen. Wenn sie jetzt schrie und um sich schlug, würde sie die Luft viel zu schnell verbrauchen und ersticken. Wenn sie am Leben bleiben wollte, musste sie Ruhe bewahren, sich kaum bewegen und mit der Atemluft sparsam umgehen. Sie streckte den Rücken durch und drückte die Beine nach außen. Das dehnte den Kropf und verschaffte ihr etwas mehr Raum. Aber die Luft wurde trotzdem knapp.
Sie versuchte, an ihr Messer zu gelangen, aber sie hatte es so tief in ihre Hüfttasche gesteckt, dass sie es nicht erreichen konnte. Die Muskelwände des Vogelkropfs hielten ihren Arm fest.
Verdammt. Ich muss unbedingt dieses Messer kriegen!
Sie schwor, sich in Zukunft ihr Messer um den Hals zu hängen. Wenn es denn eine Zukunft gab … Sie drückte ihren rechten Arm immer weiter nach unten und kämpfte gegen die gummiartigen Wände an, die sie umgaben. Sie zwang die Fingerspitzen in ihre Tasche hinein und atmete mit einem Schlag ganz tief aus. Die üble Luft drehte ihr fast den Magen um, und sie musste husten. Aber ihre Fingerspitzen schlossen sich jetzt um eine Flasche in ihrer Tasche. Was war denn das? Die Sprühflasche! Die mit dem Käfer-Spray. Die Rick für sie gefüllt hatte.
Eine Waffe.
Sie verzog das Gesicht und hangelte mit viel Mühe die Flasche heraus.
In diesem Augenblick führte der Vogel offensichtlich ein größeres Flugmanöver durch. Der Kropf zog sich zusammen, und seine Muskeln pressten ihr auf einen Schlag die Luft aus den Lungen. Kurz fühlte sie sich schwerelos, dann so, als würde sie fallen. Noch ein Schlingern und ein heftiger Stoß. Der Vogel war gelandet. Sie verlor das Bewusstsein.
Der Maina war zur selben Stelle zurückgekehrt, wo er Karen gefangen hatte, um dort nach weiterer Nahrung zu suchen. Er starrte auf Rick Hutter und legte dabei den Kopf schief, um seine Tiefenwahrnehmung zu verbessern.
Rick erkannte den schwarzen Streifen auf seinem Schnabel. Derselbe Vogel. Er hatte Karen gefressen. Rick wusste nicht, ob sie überhaupt noch lebte. Aber möglich wäre es. Er schwenkte die Harpune und rückte auf den Vogel vor. »Komm doch und hol mich, du feiger Bastard!«
Er erinnerte sich an eine Jagdmethode der Massai. Die musste er hier bei diesem Vogel anwenden. Ein junger Massai-Krieger, ein Junge von dreizehn oder vierzehn, kann bereits einen Löwen mit einem Speer erlegen. Du kannst das, machte er sich selbst Mut. Du musst nur die richtige Technik anwenden.
Der Vogel hüpfte auf ihn zu.
Rick beobachtete ihn, berechnete die Entfernung, ging im Voraus alle seine Bewegungen durch und legte den Winkel seiner Harpune fest. Er musste die Stärke und das Gewicht des Vogels gegen ihn selbst einsetzen, wie es die Massai-Jäger bei den Löwen machten. Der Massai-Jäger provoziert den Löwen zu einem Angriff. Im letzten Moment setzt er dann das Ende seines Speers in den Boden und richtet die Spitze auf den Löwen. Dann kniet er sich hinter den Speer. Der Löwe rennt in die Speerspitze hinein und pfählt sich selbst, während der Jäger hinter dem Speer bleibt und erst flieht, wenn der Todeskampf des Löwen beginnt.
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