Sie stand auf und wischte sich den Sand von den Kleidern. »Ich weiß, dass dir das alles ziemlich nahegehen muss. Das ist bei mir dasselbe.«
»Ja.«
»Warum bist du mir gegenüber so kalt? Ich versuche doch nur –«
»Tut mir leid«, sagte er schnell. Er wollte nicht, dass sie irgendwie Verdacht schöpfte. Das wäre unklug, wenn nicht sogar gefährlich. »Das Ganze war nur so ein Schock.«
Sie hob die Hand und berührte seine Wange. »Ruf mich an, wenn ich etwas für dich tun kann.«
»Okay. Danke.«
Sie gingen gemeinsam ins Hotel zurück. »Alle deine Freunde kommen morgen an«, sagte sie. »Das, was Eric zugestoßen ist, hat sie bestimmt auch schwer erschüttert. Aber die Führung durch unsere Einrichtungen ist schon arrangiert. Möchtest du trotzdem daran teilnehmen?«
»Unbedingt«, sagte er. »Ich kann nicht einfach so herumsitzen, vor mich hin brüten und warten.«
»Die Tour beginnt im Waipaka-Arboretum im Manoa-Tal, einem Tal in den Bergen ganz hier in der Nähe. Von dort bekommen wir einen Großteil unseres Regenwaldmaterials für unsere Forschungen. Morgen Nachmittag um drei. Soll ich dich abholen?«
»Nicht nötig«, sagte Peter. »Ich nehme mir ein Taxi.« Er schaffte es sogar, ihr einen Kuss auf die Wange zu drücken. »Danke, dass du vorbeigekommen bist, Alyson. Das bedeutet mir viel.«
»Ich möchte einfach nur helfen.« Sie schaute ihn zweifelnd an.
»Und das tust du auch«, sagte er. »Glaub mir, das tust du.«
Unfähig, zu schlafen, unfähig, etwas zu essen, und gequält von Jorges Informationen stand Peter Jansen auf dem Balkon seines Hotelzimmers. Von dort schaute er nicht auf den Ozean, sondern über die ganze Stadt. In der Ferne hoben sich im schwachen Licht der Sterne die Umrisse einer Gruppe von wilden und schwarzen Bergspitzen vom Horizont ab. Alyson Bender hatte eine bestimmte Telefonnummer dreimal hintereinander ganz kurz angerufen. Er hatte sich 15:47 Uhr als Zeit für diese Anrufe gemerkt. Es war also Nachmittag gewesen. Das Video dieses Ehepaars hatte einen Zeitstempel. Er versuchte sich an die genaue Aufnahmezeit zu erinnern. Er hatte ein gutes Zahlengedächtnis, das er bei den Datenerfassungen für seine Forschungsarbeit gut brauchen konnte. Tatsächlich tauchte der relevante Zeitstempel vor seinem inneren Auge auf: 15:50 Uhr und ein paar Sekunden. Nur drei Minuten nach Alysons Anrufen war Erics Boot zum ersten Mal auf dem Video zu sehen.
Moment mal. Wann war eigentlich Erics SMS bei ihm eingetroffen? Er holte sein Handy aus dem Zimmer und blätterte die Gesprächsprotokolle durch. Die Nachricht Komm nicht hatte er um genau 21:49 Uhr Ostküstenzeit erhalten. Zwischen der Ostküste und Hawaii betrug die Zeitdifferenz sechs Stunden. Das bedeutete … das bedeutete, dass Eric die SMS um 15:49 Uhr abgeschickt hatte, also nur zwei Minuten nachdem Alyson Bender dreimal ein nicht registriertes Handy angerufen hatte. Kein Wunder, dass der Text nur aus zwei Wörtern bestand. Für Eric ging es gerade um Leben und Tod. Er hatte also gar nicht die Zeit, einen längeren Text einzutippen. Zu diesem Zeitpunkt hatte er versucht, den Motor wieder in Gang zu bringen. Nur Augenblicke später war er über Bord gesprungen. Peters Hände waren inzwischen so feucht geworden, dass ihm das Handy beinahe aus den Fingern glitt. Er starrte auf die Wörter Komm nicht. Auf die letzten Worte seines Bruders.
Kapitel 6
ALA WAI, HONOLULU
28. OKTOBER, 8:00 UHR
Akamai Boat Services lag direkt am Ala Moana Boulevard in der Nähe des Ala-Wai-Bootshafens ganz am Ende von Waikiki Beach. Das Taxi setzte Peter um genau acht Uhr morgens dort ab. In der Bootswerkstatt wurde bereits gearbeitet. Es war kein großes Unternehmen. Nur etwa zehn oder zwölf Bootskörper standen auf dem Gelände. Er fand also sofort den Boston Whaler.
Er war hierhergekommen, weil ihn Alyson am Abend zuvor gefragt hatte, ob die Polizei das Boot untersucht habe.
Warum sollte sie so etwas fragen? Angeblich sorgte sie sich um ihren Freund, aber sie schien sich mehr für das Boot zu interessieren, von dem er gesprungen war.
Peter ging um das Boot herum und betrachtete es aufmerksam von allen Seiten.
Angesichts der Schläge und Stöße, die er in der tosenden Brandung abbekommen haben musste, war der Boston Whaler noch erstaunlich intakt. Sicher war der weiße Fiberglasrumpf überall zerkratzt, als ob sich die Hände von Riesen mit ihm befasst hätten. Aber nur auf der Steuerbordseite war ein etwa zwei Meter langer, gezackter Riss zu sehen. Außerdem war aus dem Bug ein Stück herausgeschlagen worden. Die Whaler waren berühmt für ihre Fähigkeit, auch dann noch auf dem Wasser zu treiben, wenn der Rumpf starke Beschädigungen erlitten hatte. Sein Bruder hatte jahrelange Erfahrung mit diesem Bootstyp. Eric hätte sicher gewusst, dass keine Gefahr bestand, dass dieses Boot tatsächlich sinken würde. Auch hätte er es bei diesen geringen Schäden keinesfalls aufgeben müssen. Auf jeden Fall hätte sein Bruder nicht ins Meer springen dürfen. Es wäre weit sicherer gewesen, wenn er an Bord geblieben wäre.
Warum ist er dann gesprungen? Aus Panik? War er desorientiert? Oder gab es da noch andere Gründe?
Am anderen Ende des Bootes lehnte eine Holzleiter, über die er auf das Heck hinaufstieg. Alle Luken und die Tür zur Achterdeckkabine waren mit gelben Polizeiabsperrbändern gesichert. Er hätte sich gerne die Außenbordmotoren angesehen, aber auch zu diesen war der Zugang versperrt.
»Kann ich Ihnen helfen?«, rief jetzt ein Mann von unten zu ihm hinauf. Er war kräftig gebaut, grauhaarig, und sein Overall war voller Schmierfett. Eine schmutzige Baseballkappe hatte er tief ins Gesicht gezogen.
»Oh, hallo«, sagte Peter. »Ich heiße Peter Jansen. Das hier ist das Boot meines Bruders.«
»Mhm. Und was machen Sie hier?«
»Also, ich wollte mal schauen –«
»Sind Sie Analphabet?«
»Nein, ich –«
»Das müssen Sie aber sein, auf dem Schild da steht ganz deutlich, dass sich alle Besucher im Büro anmelden müssen. Sind Sie ein Besucher?«
»Schätze schon.«
»Und warum haben Sie sich dann nicht angemeldet?«
»Ich dachte, ich könnte –«
»Falsch. Sie können nicht. Also was zum Teufel tun Sie da oben?«
»Das ist das Boot meines –«
»Ich habe Sie schon beim ersten Mal verstanden. Das Boot Ihres Bruders. Sehen Sie diese ganzen gelben Absperrbänder? Ich weiß, dass Sie das tun, und die Aufschrift TATORT können Sie auch lesen, weil Sie mir ja erzählt haben, dass Sie kein Analphabet sind. Stimmt das so weit?«
»Ja.«
»Also haben wir es hier mit einem Tatort zu tun, auf dem Sie nichts verloren haben. Und jetzt steigen Sie verdammt noch mal sofort da runter und gehen ins Büro und melden sich an und zeigen uns Ihren Ausweis. Sie können sich doch ausweisen?«
»Ja.«
»Umso besser. Steigen Sie da runter und hören Sie auf, mir die Zeit zu stehlen.« Der Mann stapfte davon.
Peter stieg die Leiter herunter. Als er beinahe unten war, hörte er eine raue Männerstimme sagen: »Kann ich Ihnen helfen, Miss?« Eine Frauenstimme antwortete: »Ja, ich suche nach einem Boston Whaler, den die Küstenwache hierhergebracht hat.«
Es war Alyson.
Peter erstarrte für einen Moment. Da er sich auf der anderen Seite des Boots befand, konnte sie ihn nicht sehen.
»Das gibt’s doch nicht«, rief der Mann aus. »Was hat es mit diesem verdammten Boot nur auf sich? Das kriegt ja mehr Besuche als ein reicher Erbonkel auf seinem Sterbebett.«
»Was meinen Sie damit?«, fragte sie.
»Nun, gestern taucht hier ein Typ auf und behauptet, es sei sein Boot. Da er sich jedoch nicht ausweisen konnte, sagte ich ihm, er solle verschwinden. Was die Leute alles versuchen! Heute Morgen lässt sich dann hier ein junger Bursche blicken, der behauptet, das hier sei das Boot seines Bruders. Ich musste ihn vom Heckplatz runterholen. Und jetzt sind Sie da. Was ist an diesem Boot denn so besonders?«
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