Kurz darauf war auf dem Video zu sehen, wie Eric von seinem Boston Whaler in die tosende Brandung sprang. Es war zwar nicht genau festzustellen, aber er schien zu dieser Zeit knapp dreißig Meter vom Ufer entfernt zu sein. Er machte auch keinen Kopfsprung, sondern sprang mit den Füßen voraus, um sofort danach in der weißen Gischt zu verschwinden.
Peter passte genau auf, ob er irgendwo wieder auftauchte, aber das war anscheinend nicht der Fall. Trotzdem kam Peter etwas äußerst seltsam, wenn nicht sogar beunruhigend vor. Eric hatte vor seinem Sprung keine Schwimmweste angelegt! Dabei war er doch erfahren genug, um zu wissen, dass man in einem solchen Notfall immer eine Rettungsweste tragen musste. »Mein Bruder trug keine Schwimmweste«, teilte er jetzt auch Watanabe mit.
»Das ist mir auch aufgefallen. Vielleicht hat er vergessen, sie mit an Bord zu nehmen. Das passiert schon mal, wissen Sie –«
»Hat er über sein Funkgerät einen Notruf abgesetzt?«, fragte Peter den Polizeibeamten. Erics Boot war bestimmt mit einem UKW-Seefunkgerät ausgerüstet gewesen. Eric hätte sicher als erfahrener Bootsfahrer auf dem Kanal 16, der ständig von der Küstenwache abgehört wurde, einen Mayday-Ruf gesendet.
»Die Küstenwache hat nichts dergleichen empfangen.«
Das alles war sehr seltsam. Keine Rettungsweste, kein Notruf. War Erics Funkgerät ebenfalls defekt? Peter starrte weiterhin angestrengt auf den sich hebenden und senkenden Ozean auf dem Video … ein Ozean, der jedoch kein Anzeichen seines Bruders verriet. Nach einer weiteren Minute sagte er: »Schalten Sie ab.«
Watanabe stoppte das Video. »Er ist wahrscheinlich dem Brandungsfriedhof zum Opfer gefallen.«
»Dem was?«
»Dem Brandungsfriedhof. So nennen wir hier in Hawaii die ausgewaschene Zone, in der die Wellen nach ihrer Brechung auslaufen, da, wo ständig ein Schaumteppich kocht. In dieser Zone wurde er vielleicht auf irgendwelche Steine geschleudert. Einige von diesen Unterwasserfelsen liegen nur knappe zwei Meter unter der Wasseroberfläche. Wir wissen es einfach nicht.« Er machte eine kurze Pause. »Möchten Sie sich etwas davon noch einmal ansehen?«
»Nein«, sagte Peter. »Ich habe genug gesehen.«
Watanabe klappte den Videobildschirm ein und schaltete die Kamera ab. »Diese Frau da auf der Höhe«, sagte er eher beiläufig. »Wissen Sie, wer sie ist?«
»Ich? Nein. Könnte sonst wer sein.«
»Ich habe mich nur gefragt … Sie sind so auf sie angesprungen.«
»Nein, tut mir leid. Ich war nur überrascht, wegen … Sie tauchte so plötzlich auf, das war alles. Ich habe keine Ahnung, wer das ist.«
Watanabe blieb ganz ruhig. »Sie würden es mir ja auch sagen, wenn Sie sie kennen«, meinte er nur.
»Sicher, natürlich. Ja.«
»Auf jeden Fall vielen Dank, dass Sie sich die Zeit genommen haben.« Watanabe gab ihm seine Karte. »Einer meiner Beamten wird Sie in Ihr Hotel bringen.«
Auf der Rückfahrt sagte Peter kaum ein Wort. Er hatte keine Lust zu reden, und dem Polizeibeamten schien das ganz recht zu sein. Tatsächlich waren die Bilder, wie sein Bruder in der Brandung verschwand, wirklich verstörend gewesen. Aber nicht so verstörend wie die Frau auf der Höhe, die Frau in Weiß, die auf das Boot deutete und irgendetwas in der Hand hielt. Diese Frau war nämlich Alyson Bender, die Finanzchefin von Nanigen. Ihre Anwesenheit in dieser Szene änderte alles.
27. OKTOBER, 17:00 UHR
In seinem Hotelzimmer legte sich Peter Jansen aufs Bett und versuchte mit dem Gefühl von Unwirklichkeit zurechtzukommen, das ihn erfüllte. Er wusste nicht, was er als Nächstes tun sollte. Warum hatte er Watanabe nicht erzählt, wer Alyson Bender war? Er fühlte sich erschöpft, konnte aber nicht einschlafen. Das Video ging ihm immer wieder im Kopf herum. Er sah Alyson, wie sie etwas in der Hand hielt, während sie Erics Tod beobachtete, als ob ihr dieser überhaupt nichts bedeuten würde. Und dann war sie davongeeilt. Warum?
Er erinnerte sich an Rick Hutters Vorschlag, wie er Erika Moll auf die Schliche kommen könnte. Er holte seine Brieftasche heraus und begann, sie zu durchsuchen. Visitenkarten, Geld – da war er ja, der Notizzettel, den ihm Rick vor über einer Woche im Labor gegeben hatte. Rick Hutter hatte darauf nur das Wort JORGE und eine Nummer geschrieben.
Das war der Junge, der sich Zugang zu allen Telefonaufzeichnungen verschaffen konnte. Der MIT-Telefonhacker.
Die Ortsvorwahl zeigte, dass der Anschluss in Massachusetts lag. Er wählte die ganze Nummer. Es klingelte eine ganze Weile, aber Peter blieb stur. Keine Mailbox, also ließ er es immer weiterklingeln. Schließlich meldete sich jemand mit einem müden Grunzen: »Ja?«
Jansen erzählte, wer er war, und erklärte, was er wollte. »Ich bin ein Freund von Rick Hutter. Kannst du mir eine Liste der Anrufe verschaffen, die in letzter Zeit von einer bestimmten Telefonnummer aus geführt wurden oder dort eingingen?«
»So? Und warum?«
»Rick hat mir erzählt, dass du das tun könntest. Ich zahle dir, was immer du dafür verlangst.«
»Geld interessiert mich nicht. Ich tue so etwas nur, wenn es, ähm, interessant ist.« Ein leichter Latinoakzent war in dieser leisen, eher weichen Stimme unverkennbar.
Peter erklärte die Situation. »Eine Frau könnte in meines Bruders … meines Bruders … Tod verwickelt sein.« Tod. Es war das erste Mal, dass er das Wort im Zusammenhang mit Eric benutzte.
Eine ziemlich lange Pause.
»Also, ich habe die Telefonnummer, von der aus die Frau mich angerufen hat. Könntest du herausfinden, mit wem sie noch gesprochen hat? Ich nehme an, dass es ihr Telefon ist.« Er las ihm Alysons Nummer vor.
Vom anderen Ende der Leitung war lange nichts zu hören, das Schweigen schien ewig zu dauern. Peter hielt den Atem an. Schließlich sagte Jorge: »Gib mir« – Pause – »ein paar Stunden.«
Peter legte sich wieder auf sein Bett. Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Er hörte den Verkehr auf der Kalakaua Avenue, denn sein Zimmer war nach mauka gerichtet, also in Richtung Inland, zur Stadt und den dahinterliegenden Bergen. Der Tag ging allmählich zur Neige, die Sonne begann zu sinken, und das Zimmer füllte sich mit Schatten. Er hätte wirklich seine Schwester in der medizinischen Fakultät anrufen und ihr das von Eric erzählen sollen … aber Joanna absolvierte gerade ihre Praktika in den verschiedenen Klinikabteilungen und kam deshalb kaum zum Schlafen. Wenn er ihr jetzt diese Geschichte erzählte, könnte das eventuell ihr Medizinstudium ernsthaft gefährden. Vielleicht sollte er noch einen Tag warten, vielleicht tauchte Eric doch noch auf. Vielleicht hatte er es doch ans Ufer geschafft. Vielleicht litt er unter Amnesie und würde in irgendeinem Krankenhaus aufgefunden werden. Vielleicht war das Ganze ein schrecklicher Irrtum … Er würde seine Schwester jedoch auf jeden Fall bald anrufen müssen. Peter musste einfach hoffen, musste einfach glauben, dass Eric wieder auftauchen würde, irgendwie, irgendwo – die Hoffnung stirbt ja bekanntlich zuletzt. Oder war Eric etwa doch … ermordet worden? Schließlich hielt Peter es in seinem Zimmer nicht mehr länger aus und ging nach draußen.
Er setzte sich vor seinem Hotel an den Strand und beobachtete, wie sich die roten Streifen, die die untergehende Sonne auf den Ozean warf, allmählich schwarz färbten. Warum hatte er dem Polizeibeamten nicht erzählt, dass er sie auf dem Video erkannt hatte? Es war eine Art Instinkt gewesen, nichts zu sagen, die Worte waren ihm ohne eigenes bewusstes Zutun aus dem Mund geflossen. Aber warum? Was genau hatte ihn dazu bewogen? Als er und Eric noch jünger waren, hatten sie aufeinander aufgepasst. Eric war für ihn und er für Eric eingetreten …
»Da sind Sie ja!«
Als er sich umdrehte, sah er Alyson Bender im Abendlicht auf sich zukommen. Sie trug ein mit hawaiianischen Mustern bedrucktes Kleid und Sandalen. Sie sah völlig anders aus als neulich in Cambridge, als sie ein Businesskostüm und eine teure Perlenkette getragen hatte. Jetzt wirkte sie dagegen wie ein unschuldiges junges Mädchen.
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