»Ja. Er hatte eine Beule am Hinterkopf, aber davon abgesehen wirkte er in Ordnung.« »Haben Sie irgendeinen Gedächtnisverlust bemerkt?« »Nein.«
»Keine Veränderungen in seinem Wesen?« »Nein.«
»Keine Krämpfe? Ein steifer Nacken oder Kopfschmerzen?« »Nein, nichts.«
Der Arzt hörte auf zu schreiben und blickte Jennifer an. »Ich habe ihn röntgen lassen, aber das Ergebnis war nicht befriedigend. Ich möchte sein Gehirn gern fotografieren lassen.«
»Sein...?«
»Mit einer neuen, computergesteuerten Maschine aus England, die das Innere des Gehirns ablichten kann. Es kann sein, daß ich danach noch ein paar weitere Tests mit ihm machen möchte. Sind Sie damit einverstanden?«
»Wewewenn...«, stotterte sie, »wenn es notwendig ist. Es - es wird ihm nicht weh tun, oder?«
»Nein. Eventuell muß ich auch eine Punktion des Rückgrats vornehmen.« Er jagte ihr Angst ein.
Sie zwang sich zu fragen: »Was hat er, Ihrer Meinung nach? Was ist mit meinem Sohn?« Sie erkannte den Klang ihrer eigenen Stimme nicht wieder.
»Ich würde es vorziehen, keine Vermutungen zu äußern, Mrs. Parker. In einer oder zwei Stunden wissen wir Bescheid. Er ist jetzt wach, falls Sie ihn sehen wollen.«
»O ja, bitte!«
Eine Krankenschwester führte sie zu Joshuas Zimmer. Er lag im Bett, eine blasse, kleine Gestalt. Als Jennifer eintrat, öffnete er die Augen. »Hallo, Mama.«
»Hallo, du da.« Sie setzte sich auf die Kante seines Betts. »Wie fühlst du dich?«
»Irgendwie komisch. So, als wäre ic h gar nicht hier.« Jennifer ergriff seine Hand. »Du bist hier, Liebling. Und ich bin bei dir.«
»Ich sehe alles doppelt.«
»Hast du - hast du das dem Doktor gesagt?«
»Ja. Ich habe ihn doppelt gesehen. Hoffentlich schickt er dir nicht zwei Rechnungen.«
Jennifer legte ihre Arme um Joshua und drückte ihn an sich. Sein Körper wirkte geschrumpft und zerbrechlich. »Mama?«
»Ja, Liebling?«
»Du läßt mich nicht sterben, oder?«
Ihre Augen brannten plötzlich. »Nein, Joshua, ich lasse dich nicht sterben. Die Ärzte machen dich wieder gesund, und dann nehme ich dich mit nach Hause.«
»Okay. Außerdem hast du versprochen, daß wir irgendwann wieder nach Acapulco fahren.«
»Ja. Sobald du...«
Er war schon wieder eingeschlafen.
Dr. Morris betrat den Raum, begleitet von zwei Männern in weißen Jacketts.
»Wir würden jetzt gern mit dem Test beginnen, Mrs. Parker. Sie dauern nicht lange. Warum warten Sie nicht hier und machen es sich bequem?«
Jennifer sah zu, wie sie Joshua aus dem Raum trugen. Sie hockte auf der Kante des Betts und fühlte sich, als hätte man sie zusammengeschlagen. Jegliche Energie hatte sie verlassen. Sie saß da wie in Trance und starrte die weiße Wand an.
Einen Augenblick später sagte eine Stimme: »Mrs. Parker...« Jennifer blickte auf. Dr. Morris stand vor ihr. »Bitte, gehen Sie und machen Sie die Tests.« Er blickte sie seltsam an. »Wir sind schon fertig.« Jennifer blickte auf ihre Armbanduhr. Sie hatte zwei Stunden so dagesessen. Wo war die Zeit geblieben? Sie blickte den Arzt an, suchte nach den kleinen, verräterischen Zeichen, die preisgaben, ob er gute oder schlechte Nachrichten für sie hatte. Wie oft hatte sie das nicht schon getan, hatte in den Gesichtern von Geschworenen gelesen und schon vorher an ihrem Ausdruck erkannt, wie das Urteil lauten würde. Hundertmal? Fünfhundert? Aber jetzt, geschüttelt von Panik, konnte sie überhaupt nichts erkennen. Ihr Körper begann unkontrolliert zu zittern.
Dr. Morris sagte: »Ihr Sohn leidet an einem subduralen Hämatom. Allgemeinverständlich ausgedrückt, sein Gehirn hat eine schwere Verletzung erlitten.«
Ihre Kehle war plötzlich so trocken, daß sie nicht mehr sprechen konnte.
»Wa...« Sie schluckte und versuchte es noch einmal. »Was bedeu...?« Sie konnte den Satz nicht beenden.
»Ich möchte auf der Stelle operieren. Ich brauche Ihre Genehmigung.«
Er spielte ihr irgendeinen grausamen Streich. Nur noch einen Augenblick, dann würde er lächeln und ihr sagen, daß es Joshua gut ging. Ich habe Sie nur dafür bestraft, daß Sie meine Zeit verschwendet haben, Mrs. Parker. Ihr Sohn ist kerngesund, er braucht nur etwas Schlaf. Er ist ein Heranwachsender. Sie sollten uns nicht die Zeit stehlen - wir haben schließlich Patienten, die uns wirklich brauchen. Gleich würde er sie anlächeln und sagen: »Sie können Ihren Sohn jetzt mitnehmen.« Dr. Morris fuhr fort: »Er ist jung und scheint kräftig zu sein. Wir haben allen Grund, zu hoffen, daß die Operation erfolgreich verlaufen wird.«
Er würde das Gehirn ihres Babys aufschneiden, mit seinen scharfen Instrumenten hineindringen und vielleicht alles zerstören, was Joshua zu Joshua machte. Vielleicht - würde er ihn töten. »Nein!« Das Wort war ein wütender Schrei. »Sie erlauben uns nicht, zu operieren?«
»Ich...« Sie war so verwirrt, daß sie nicht mehr denken konnte. »Was - was ist, wenn Sie ihn nicht operieren?« Dr. Morris sagte schlicht: »Ihr Sohn wird sterben. Ist der Vater des Jungen hier?«
Adam! Oh, wie gern hätte sie ihn jetzt hier gehabt, seine Arme um sich gespürt, seinen Trost. Sie wollte, daß er ihr sagte, daß sich alles wieder einrenken, daß Joshua gesund werden würde.
»Nein«, antwortete Jennifer schließlich. »Er ist nicht hier. Ich - ich gebe Ihnen die Erlaubnis. Operieren Sie!« Dr. Morris füllte ein Formular aus und reichte es ihr. »Würden Sie das bitte unterschreiben?«
Jennifer unterschrieb das Papier, ohne es anzuschauen. »Wie lange wird es dauern?«
»Das weiß ich erst, wenn ich seinen Kopf geöff..« Er sah den Ausdruck ihres Gesichts, »... wenn ich mit der Operation begonnen habe. Wollen Sie hier warten?«
»Nein!« Die Mauern zogen sich um sie zusammen, erstickten sie. Sie konnte kaum atmen. »Gibt es hier eine Kapelle?«
Die Krankenhauskapelle war klein. Über dem Altar hing ein Gemälde des Jesuskindes. Außer Jennifer befand sich niemand im Raum. Sie kniete, aber sie konnte nicht beten. Sie war nie sehr religiös gewesen; warum sollte Gott ihr jetzt zuhören? Sie versuchte sich zu beruhigen, so daß sie mit Gott sprechen konnte, aber ihre Furcht war zu stark; sie hatte sie vollkommen in ihre Gewalt gebracht. Jennifer beschuldigte sich selber mitleidlos. Wenn ich Joshua nur nicht mit nach Acapulco genommen hätte, dachte sie... wenn ich ihn nicht Wasserski fahren gelassen hätte... wenn ich diesem mexikanischen Arzt nicht vertraut hätte... wenn. Wenn. Wenn. Dann schlug sie Gott ein Tauschgeschäft vor. Mach ihn gesund, und ich tue alles, was du willst.
Anschließend leugnete sie ihn. Wenn es einen Gott gäbe, würde er ein Kind, das niemandem etwas zuleide getan hat, so bestrafen? Was ist das für ein Gott, der unschuldige Kinder sterben läßt? Als sie völlig erschöpft und am Ende ihrer Kraft war, hörten ihre Gedanken auf zu rasen, und sie erinnerte sich an Dr. Morris' Worte: Er ist jung und scheint kräftig zu sein. Wir haben allen Grund, zu hoffen, daß die Operation erfolgreich verlaufen wird. Alles würde wieder in Ordnung kommen. Natürlich würde es gelingen. Wenn alles vorbei war, würde sie mit Joshua irgendwohin fahren, wo er sich ausruhen konnte. Acapulco, wenn er wollte. Sie würden lesen, spielen und sich unterhalten...
Als Jennifer schließlich nicht einmal mehr denken konnte, ließ sie sich auf die harte Holzbank zurücksinken. Ihr Kopf war benommen und leer. Jemand berührte sie am Arm, und sie sah auf, und Dr. Morris stand über sie gebeugt. Jennifer blickte in sein Gesicht und brauchte keine Fragen mehr zu stellen. Sie fiel in Ohnmacht.
Joshua lag auf einem schmalen Metalltisch, sein Körper für immer reglos. Er wirkte wie in einem friedlichen Schlaf befangen, sein hübsches, junges Gesicht erleuchtet vom Widerschein geheimer, ferner Träume. Jennifer hatte diesen Ausdruck schon tausendmal gesehen, wenn Joshua sich in sein Bett kuschelte, während sie auf der Kante saß und sein Gesicht anschaute, erfüllt von einer Liebe, die sie mit ihrer Heftigkeit fast erstickte. Und wie oft hatte sie die Decke von allen
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