Als der Leichenbestatter hereinschaute, stand Jennifer über den angekleideten Körper gebeugt, hielt Joshuas Hand und redete mit ihm. Der Mann ging zu ihr und sagte sanft: »Wir kümmern uns jetzt um ihn.«
Jennifer blickte ihren Sohn ein letztes Mal an. »Bitte, gehen Sie vorsichtig mit ihm um. Er hat sich am Kopf verletzt, müssen Sie wissen.«
Die Beerdigung war schlicht. Jennifer und Mrs. Mackey gaben Joshua als einzige das letzte Geleit. Sie sahen zu, wie der schmale, weiße Sarg in das frisch ausgehobene Grab gesenkt wurde. Jennifer hatte daran gedacht, Ken Bailey zu informieren, denn Ken und Joshua hatten sich innig geliebt, aber Ken spielte keine Rolle mehr in ihrem Leben. Als die erste Schaufel voll Dreck auf den Sarg geworfen wurde, sagte Mrs. Mackey: »Kommen Sie, ich bringe Sie nach Hause.«
Jennifer sagte höflich: »Es geht mir gut. Joshua und ich, wir brauchen Sie nicht mehr, Mrs. Mackey. Ich sorge dafür, daß Sie einen Jahreslohn ausgezahlt bekommen, und ich gebe Ihnen ein gutes Zeugnis. Joshua und ich danken Ihnen für alles.«
Sie drehte sich um, ließ Mrs. Mackey stehen und schritt davon. Sie ging vorsichtig und hielt sich sehr aufrecht, als ginge sie einen endlosen Korridor entlang, der gerade breit genug für eine Person war.
Das Haus war still und friedlich. Sie ging nach oben in Joshuas Zimmer, schloß die Tür und legte sich auf sein Bett. Sie betrachtete all die Dinge, die ihm gehört hatten, die er geliebt hatte. Ihre ganze Welt war in diesem Zimmer. Jetzt gab es nichts mehr zu tun für sie - nichts mehr zu tun und kein Ziel. Es gab nur Joshua. Jennifer begann mit dem Tag seiner Geburt und versank in einem Meer von Erinnerungen. Joshua erste Schritte... Joshua, der Auto-Auto sagte und Mama, geh mit deinem Spielzeug spielen... Joshua, wie er zum erstenmal allein zur Schule ging, eine kleine, tapfere Gestalt... Joshua mit Masern im Bett... Joshua, der für seine Mannschaft ein Baseballspiel gewann... Joshua am Bug des Segelboots... Joshua, wie er einen Elefanten im Zoo fütterte... wie er am Muttertag Shine On, Harvest Moon sang..., die Erinnerungen zogen vorbei, Kurzfilme auf der Leinwand ihrer Seele. Sie endeten mit dem Tag, an dem sie nach Acapulco fuhren.
Acapulco... wo sie Adam getroffen und mit ihm geschlafen hatte. Gott strafte sie, weil sie nur an sich gedacht hatte. Natürlich, dachte Jennifer. Joshuas Tod ist meine Strafe. Er ist meine Hölle.
Und sie begann wieder von vorn, mit dem Tag, an dem Joshua geboren worden war... seine ersten Schritte... Auto-Auto und Mama, geh mit deinem Spielzeug spielen... Die Zeit verstrich. Manchmal hörte Jennifer das Telefon in einem fernen Winkel des Hauses klingeln, und einmal klopfte jemand an die Vordertür, aber diese Geräusche hatten keine Bedeutung für sie. Sie war mit ihrem Sohn zusammen und ließ sich durch nichts dabei stören. Sie blieb in Joshuas Zimmer, aß und trank nichts, verloren in ihrer eigenen Welt mit Joshua. Sie hatte kein Gefühl mehr für Zeit, keine Ahnung, wie lange sie auf dem Bett lag und in der Vergangenheit lebte.
Fünf Tage später hörte Jennifer die Türklingel erneut. Dann hämmerte jemand an die Tür, aber sie kümmerte sich nicht darum. Wer es auch immer war, er würde gehen und sie in Ruhe lassen. Undeutlich vernahm sie das Geräusch von splitterndem Glas. Einige Sekunden später sprang die Tür von Joshuas Zimmer auf, und Michael Moretti erschien im Rahmen. Er warf einen Blick auf die hagere Gestalt, die aus tiefliegenden Augen vom Bett zu ihm hochstarrte und sagte: »Jesus Christus!«
Michael Moretti brauchte seine ganze Kraft, um Jennifer aus dem Raum zu schaffen. Sie wehrte sich hysterisch, schlug nach ihm und versuchte, ihm die Augen auszukratzen. Nick Vito wartete im Erdgeschoß, und sogar zu zweit hatten sie alle Hände voll zu tun, um Jennifer in den Wagen zu bringen. Jennifer hatte keine Ahnung, wer sie waren und warum sie da waren. Sie wußte nur, daß diese Männer sie von ihrem Sohn fortbrachten. Sie versuchte, ihnen zu erklären, daß sie sterben würde, wenn sie ihr das antaten, aber schließlich war sie zu erschöpft, um sich noch länger zu wehren. Sie schlief ein.
Jennifer erwachte in einem hellen, sauberen Zimmer mit einem großen Aussichtsfenster, durch das sie einen Berg und einen See in der Ferne erblicken konnte. Eine Krankenschwester saß in einem Stuhl neben dem Bett und las ein Magazin. Als Jennifer die Augen öffnete, sah sie auf. »Wo bin ich?« Das Sprechen schmerzte in Jennifers Kehle. »Sie sind bei Freunden, Mrs. Parker. Mr. Moretti hat Sie hergebracht. Er hat sich große Sorgen um Sie gemacht. Er wird sich freuen, wenn er hört, daß Sie wieder wach sind.« Die Schwester eilte aus dem Raum. Jennifer lag da, gedankenblind, und wollte, daß ihr Verstand für immer leer blieb. Aber die Erinnerungen kehrten zurück, ungebeten, unerwünscht, und es gab kein Versteck, keine Fluchtmöglichkeit vor ihnen. Jennifer begriff, daß sie versucht hatte, Selbstmord zu begehen, ohne wirklich den Mut dazu zu haben. Sie hatte einfach sterben und den Tod herbeizwingen wollen. Michael hatte sie gerettet. Welche Ironie! Nicht Adam, sondern Michael. Vermutlich war es unfair, Adam einen Vorwurf zu machen. Sie hatte ihm die Wahrheit verheimlicht, hatte ihm den Sohn, der geboren worden und nun tot war, vorenthalten. Joshua war tot. Jetzt konnte Jennifer der Tatsache ins Gesicht sehen. Der Schmerz war tief und quälend, und sie wußte, daß dieser Schmerz sie ihr Leben lang begleiten würde. Aber sie konnte es ertragen. Sie mußte. Es war die ausgleichende Gerechtigkeit, die ihr die Rechnung vorlegte.
Jennifer hörte Schritte und blickte auf. Michael hatte den Raum betreten. Er stand vor dem Bett und sah sie fragend an. Als Jennifer verschwunden war, hatte er sich wie ein Wilder aufgeführt. Aus Angst um sie hatte er beinahe den Verstand verloren. Er ging auf sie zu und blickte ihr in die Augen. »Warum hast du mir nichts gesagt?« Er setzte sich auf die Bettkante. »Es tut mir so leid.«
Sie nahm seine Hand. »Danke, daß du mich hergebracht hast. Ich - ich glaube, ich war ein bißchen verrückt.«
»Ein bißchen.«
»Wie lange bin ich schon hier?' »Vier Tage. Der Doktor hat dich intravenös ernährt.« Jennifer nickte, und sogar diese kleine Bewegung kostete sie große Anstrengung.
»Dein Frühstück ist unterwegs. Er hat mir aufgetragen, dich zu mästen.« »Ich bin nicht hungrig. Ich glaube, ich will nie wieder essen.« »Du wirst.«
Und zu ihrer Überraschung hatte Michael recht. Als die Schwester ihr auf einem Tablett weichgekochte Eier, Toast und Tee brachte, stellte sie fest, daß sie ausgehungert war. Michael blieb bei ihr und beobachtete sie, und als sie fertig war, sagte er: »Ich muß wieder zurück nach New York und mich um ein paar Angelegenheiten kümmern. In ein paar Tagen bin ich wieder da.«
Er beugte sich vor und küßte sie zärtlich. »Ich sehe dich am Freitag.« Langsam strich er mit einem Finger über ihr Gesicht. »Ich möchte, daß du schnell wieder gesund wirst, hörst du?« Jennifer sah ihn an und sagte: »Ich höre.«
Der riesige Konferenzraum des Stützpunktes der US-Marineinfanterie platzte beinahe aus den Nähten. Vor der Tür stand eine Abteilung bewaffneter Wachen auf dem Posten. Hinter der Tür fand eine außergewöhnliche Versammlung statt. In Stühlen längs der Wand saßen die Mitglieder einer Anklagekammer. Auf der einen Seite eines langen Tisches saßen Adam Warner, Robert Di Silva und der stellvertretende Direktor des FBI. Ihnen gegenüber saß Thomas Colfax. Die Geschworenen der Anklagekammer, die Grand Jury in den Stützpunkt zu schaffen, war Adams Idee gewesen. »Nur so können wir Colfax' Schutz gewährleisten.« Die Grand Jury hatte Adams Vorschlag zugestimmt, und die Geheimsitzung konnte beginnen.
Adam forderte Thomas Colfax auf: »Würden Sie sich bitte identifizieren?« »Mein Name ist Thomas Colfax.« »Was sind Sie von Beruf, Mr. Colfax?«
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