Jennifer aß an ihrem Schreibtisch zu Abend und bereitete den morgigen Prozeßtag vor. Sie dachte daran, Michael anzurufen und ihm zu sagen, daß sie zurück war, aber sie zögerte, so kurz nach der Nacht mit Adam mit ihm zu sprechen... Spät nach Mitternacht hörte sie auf zu lesen. Sie stand auf und reckte sich, um die Spannung in Rücken und Nacken zu lockern. Sie legte die Unterlagen in ihren Diplomatenkoffer, schaltete das Licht aus und ging nach oben. Sie blickte zu Joshua ins Zimmer. Er schlief noch immer. Die Sandwiches neben seinem Bett waren unberührt.
Als Jennifer am folgenden Morgen zum Frühstück hinunterging, saß Joshua am Tisch, bereits für die Schule angezogen. »Morgen, Mama.«
»Guten Morgen, Liebling. Wie fühlst du dich?«
»Großartig. Ich war wirklich müde. Muß die mexikanische Sonne gewesen sein.«
»Ja, muß wohl.«
»Acapulco ist wirklich schön. Können wir in meinen nächsten Ferien wieder hinfahren?«
»Ich wüßte nicht, warum wir das nicht können sollten. Freust du dich, wieder in die Schule zu gehen?«
»Ich verweigere die Aussage, weil sie mich belasten könnte.«
Mitten am Nachmittag unterbrach Cynthia bei einer Zeugenbefragung.
»Entschuldigen Sie, daß ich Sie störe, aber Mrs. Stout ist in der Leitung und...«
Joshuas Hauslehrerin. »Stellen Sie durch.« Jennifer hob den Hörer ab. »Hallo, Mrs. Stout. Stimmt irgend etwas nicht?«
»O nein, alles ist in bester Ordnung, Mrs. Parker. Ich wollte Sie nicht beunruhigen. Ich wollte Ihnen nur vorschlagen, daß es nicht schlecht wäre, wenn Joshua etwas mehr Schlaf bekäme.«
»Was meinen Sie damit?«
»Er ist heute fast während jeder Stunde eingeschlafen. Sowohl Miß Williams wie auch Mrs. Toboco haben es erwähnt. Vielleicht könnten Sie darauf achten, daß er etwas früher ins Bett kommt.«
Jennifer starrte das Telefon an. »Ich - ja, das werde ich tun.« Langsam legte sie den Hörer wieder auf und wandte sich an die Leute im Raum, die sie beobachteten. »Es - es tut mir leid«, sagte sie. »Entschuldigen Sie mich.« Sie lief hinaus in den Empfangsraum. »Cynthia, such Dan! Bitte ihn, die Zeugenbefragung für mich zu Ende zu führen. Mir ist etwas dazwischengekommen.«
»Einver...«
Jennifer war schon aus der Tür.
Sie fuhr nach Hause wie eine Wahnsinnige, übertrat die Geschwindigkeitsbegrenzung, ignorierte rote Ampeln. Visionen von einem schrecklichen Unglück stiegen in ihr auf. Die Fahrt schien unendlich, und als das Haus in der Ferne auftauchte, erwartete Jennifer halb und halb, eine Armee von Krankenwagen und Polizeifahrzeugen auf dem Bürgersteig stehen zu sehen. Die Zufahrt war verwaist. Jennifer fuhr bis zum Vordereingang und hastete ins Haus. »Joshua!«
Er saß im Wohnzimmer und sah sich ein Baseballspiel im Fernsehen an. »Hi, Mama. Du bist aber früh zu Hause. Haben sie dich gefeuert?«
Jennifer stand im Türrahmen, starrte ihn an und spürte, wie sie von Erleichterung durchflutet wurde. Sie fühlte sich wie eine Idiotin.
»Du hättest die letzte Halbzeit sehen sollen. Craig Swan war phantastisch!«
»Wie fühlst du dich, Sohn?«
»Großartig.«
Jennifer legte die Hand auf seine Stirn. Er hatte kein Fieber. »Bist du sicher, daß du in Ordnung bist?«
»Natürlich. Warum schaust du so komisch? Hast du Kummer? Möchtest du dich von Mann zu Mann unterhalten?« Sie lächelte. »Nein, Liebling. Ich habe nur - tut dir irgend etwas weh?«
Er stöhnte. »Das kann man wohl sagen. Die Mets verlieren sechs zu fünf. Weißt du, was in der ersten Halbzeit passiert ist?«
Aufgeregt begann er, die Heldentaten seiner Lieblingsmannschaft zu rekapitulieren. Jennifer stand da, betrachtete ihn hingerissen und dachte: Meine verdammte Einbildung! Natürlich ist er gesund.
»Schau dir den Rest des Spiels an. Ich kümmere mich um das Abendessen.«
Erleichtert ging Jennifer in die Küche. Sie beschloß, einen Bananenkuchen zu machen, eines von Joshuas Lieblingsgerichten.
Als Jennifer dreißig Minuten später wieder in das Fernsehzimmer ging, lag Joshua bewußtlos auf dem Boden.
Die Fahrt zum Blinderman Memorial Hospital schien eine Ewigkeit zu dauern. Jennifer saß hinten im Ambulanzwagen und preßte Joshuas Hand. Ein Sanitäter hielt eine Sauerstoffmaske gegen das Gesicht des Jungen. Er hatte das Bewußtsein nicht wiedererlangt. Die Sirene des Krankenwagens heulte durchdringend, aber der Verkehr war zähflüssig, und der Wagen konnte nur langsam fahren, während neugierige Passanten durch die Scheiben auf die bleiche Frau und den bewußtlosen Jungen gafften.
»Warum gibt es in Krankenwagen keine Einwegfenster?« fragte Jennifer.
Der Sanitäter blickte irritiert auf. »Bitte?«
»Nichts... nichts.«
Nach einer scheinbar unendlichen Fahrt hielt die Ambulanz am Noteingang hinter dem Hospital. Zwei Assistenzärzte warteten bereits an der Tür. Hilflos sah Jennifer zu, wie Joshua aus dem Krankenwagen auf eine fahrbare Bahre gehoben wurde.
Ein Pfleger fragte: »Sind Sie die Mutter des Jungen?«
»Ja.«
»Hier lang, bitte.«
Danach erschien Jennifer alles wie ein verwischter, kaleidoskopartiger Eindruck von Geräuschen, Licht und Bewegungen. Sie sah, wie Joshua einen langen weißen Korridor hinunter in einen Röntgenraum gerollt wurde. Sie wollte ebenfalls hineingehen, aber der Pfleger sagte: »Sie müssen ihn erst eintragen.«
Eine dünne Frau am Empfangstisch fragte Jennifer: »Wie wollen Sie für die Behandlung aufkommen? Sind Sie im Blauen Kreuz oder in einer anderen Versicherung?« Jennifer mußte sich davon abhalten, die Frau anzubrüllen. Sie wollte zurück an Joshuas Seite, aber sie zwang sich, die Fragen zu beantworten.
Als sie vorbei waren und Jennifer verschiedene Formulare ausgefüllt hatte, erlaubte die Frau ihr, zu gehen.
Sie lief zum Röntgensaal und ging hinein. Der Raum war leer. Joshua war weg. Jennifer lief zurück in den Flur und blickte gehetzt in beide Richtungen. Eine Schwester näherte sich. Jennifer packte ihren Arm. »Wo ist mein Sohn?« Die Schwester sagte: »Ich weiß nicht. Wie heißt er?«
»Joshua. Joshua Parker.«
»Wo haben Sie ihn verlassen?«
»Er - er sollte geröntgt werden... er...« Sie war unfähig, zusammenhängend zu reden. »Was haben sie mit ihm gemacht? Sagen Sie es mir!«
Die Schwester sah Jennifer genauer an und sagte dann: »Warten Sie hier, Mrs. Parker. Ich werde versuchen, es herauszufinden.«
Ein paar Minuten später kehrte sie zurück. »Dr. Morris würde gern mit Ihnen sprechen. Kommen Sie bitte mit.« Jennifer stellte fest, daß ihre Beine zitterten. Das Laufen fiel ihr schwer.
»Geht es Ihnen gut?« Die Schwester starrte sie an. Jennifers Mund war trocken vor Angst. »Ich will meinen Sohn.«
Sie gelangten zu einem Raum, der mit fremdartig aussehenden Instrumenten gefüllt war. »Warten Sie hier, bitte.« Dr. Morris kam ein paar Augenblicke später. Er war sehr dick, hatte ein rotes Gesicht und Nikotinflecken an den Fingern. »Mrs. Parker?«
»Wo ist Joshua?«
»Treten Sie einen Augenblick herein, bitte.« Er führte Jennifer in einen kleinen Büroraum.
Jennifer nahm Platz. »Joshua ist... ist es... es ist doch nichts Ernstes, oder, Doktor?«
»Das wissen wir noch nicht.« Seine Stimme war überraschend hell für einen Mann seines Umfangs. »Ich brauche einige Informationen. Wie alt ist Ihr Sohn?«
»Er ist erst sieben.«
Das erst war ihr herausgerutscht, ein Verweis für Gott. »Hatte er kürzlich einen Unfall?«
Blitzartig stieg vor Jennifers Augen das Bild vo n Joshua auf, wie er ihr zuwinkte, das Gleichgewicht verlor und gegen die Planken stürzte. »Er - er ist beim Wasserski gestürzt. Er hat sich eine Beule am Kopf geholt.« Der Arzt kritzelte Notizen. »Wie lange ist das her?«
»Ich... ein paar... ein paar Tage. In Acapulco.« Es war schwierig, logisch zu denken. »Wirkte er nach dem Unfall normal?«
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