Jennifers Leben wurde in Prozenten gemessen. »Die Gesamtergebnisse der Bronx, von Brooklyn, Queens, Richmond und der Bezirke Nassau, Rockland, Suffolk und Westchester addieren sich zu zwei Millionen dreihunderttausend Stimmen für John Trowbridge, zwei Millionen einhundertzwanzigtausend für Adam Warner, wobei die Stimmen aus dem Norden des Staates zum Teil noch ausgezählt werden. Adam Warner hat sich überraschend gut gegen Senator Trowbridge gehalten, der seine dritte Amtszeit absolviert. Den Meinungsumfragen nach hatten beide von Anfang an beinahe die gleiche Popularität. Den letzten Ergebnissen nach - zweiundsechzig Prozent der Stimmen sind bereits ausgezählt - ist Senator Trowbridge allmählich in Führung gegangen. Nach den Hochrechnungen lag Senator Trowbridge noch vor einer Stunde um nur etwa zwei Prozent vorn. Die letzten Ergebnisse zeigen, daß er seinen Vorsprung auf vier Prozent ausgebaut hat. Wenn dieser Trend anhält, sagte der NBC-Computer Senator Trowbridge den Sieg in diesem Kampf um die nächste Amtszeit im Senat der Vereinigten Staaten voraus. Das Wettrennen zwischen...«
Jennifer saß da und starrte auf den Fernsehapparat, ihr Herz klopfte. Es war, als wenn Millionen von Menschen zur Wahl darüber aufgerufen seien, ob es Adam und Jennifer oder Adam und Mary Beth heißen sollte. Jennifer fühlte sich hohl und schwach. Sie mußte daran denken, irgendwann etwas zu essen. Aber nicht jetzt. Im Augenblick spielten nur die Geschehnisse auf dem Fernsehschirm vor ihr eine Rolle. Minute für Minute, Stunde für Stunde wuchs die Spannung. Um Mitternacht lag Senator Trowbridge um dreieinhalb Prozent in Führung. Um zwei Uhr morgens, nachdem achtundsiebzig Prozent der Stimmen ausgezählt waren, führte er immer noch, allerdings nur um zweieinhalb Prozent. Der Hochrechnung des Computers nach hatte Senator Trowbridge die Wahl gewonnen.
Jennifer starrte auf den Fernsehapparat. Jedes Gefühl, jede Empfindung schienen sie verlassen zu haben. Adam hatte verloren. Jennifer war der Sieger. Sie hatte Adam und ihren Sohn gewonnen. Jetzt konnte sie es ihm sagen, jetzt konnte sie ihm von dem Kind erzählen und Pläne für die Zukunft schmieden. Jennifers Herz blutete für Adam, denn sie wußte, wieviel die Wahl ihm bedeutet hatte. Aber mit der Zeit würde er darüber hinwegkommen. Eines Tages würde er es noch einmal versuchen, und sie würde ihm helfen. Er war noch jung. Die Welt lag vor ihnen, und sie waren zu dritt.
Jennifer schlief auf der Couch ein. Sie träumte von Adam, der Wahl und dem Weißen Haus. Sie, Adam und ihr Sohn befanden sich im ovalen Zimmer. Adam hielt seine Jungfernrede. Mary Beth trat ein und begann, ihn zu unterbrechen. Adam schrie sie an, und seine Stimme wurde lauter und lauter. Jennifer erwachte. Die Stimme gehörte Edwin Newman. Der Fernsehapparat lief noch immer. Es dämmerte. Edwin Newman sah erschöpft aus. Er las die endgültigen Wahlergebnisse vor. Noch immer im Halbschlaf lauschte Jennifer seinen Worten.
Als sie gerade aufstehen wollte, um den Apparat auszustellen, hörte sie Newman sagen: »Und hier das endgültige Ergebnis der Senatswahlen im Staat New York. In einem der spannendsten Rennen der letzten Jahre hat Adam Warner seinen Vorgänger Senator John Trowbridge mit einer Spanne von weniger als einem Prozent geschlagen.« Es war vorbei. Jennifer hatte verloren.
Als Jennifer am späten Vormittag das Büro betrat, sagte Cynthia: »Mr. Adams ist in der Leitung, Miß Parker. Er hat schon den ganzen Morgen angerufen.«
Jennifer zögerte, dann sagte sie: »Gut, Cynthia, stellen Sie ihn durch.« Sie ging in ihr Büro und nahm den Hörer ab. »Hallo, Adam. Herzlichen Glückwunsch.«
»Danke. Ich muß mit dir reden. Bist du zum Mittagessen noch frei?«
Jennifer zögerte. »Ja.«
Früher oder später mußte sie es hinter sich bringen.
Sie sahen sich das erste Mal seit drei Wochen. Sie studierte sein Gesicht. Adam sah hager und erschöpft aus. Eigentlich hätte er vor Siegesfreude strahlen sollen, aber statt dessen wirkte er seltsam nervös und beunruhigt. Sie bestellten etwas zu essen, ließen es aber beide stehen, und sie sprachen über die Wahl, aber ihre Worte sollten nur ihre Gedanken verschleiern.
Die Charade war beinahe unerträglich geworden, als Adam schließlich begann: »Jennifer...« Er holte tief Luft und ließ sich dann ins kalte Wasser fallen: »Mary Beth bekommt ein Kind.« Diese Worte aus seinem Mund zu hören, verlieh ihnen grauenhafte Endgültigkeit. »Es - es ist einfach passiert. Es ist schwer zu erklären.«
»Du brauchst nichts zu erklären.« Jennifer konnte die Szene klar und deutlich vor sich sehen. Mary Beth in einem aufreizenden Negligé - oder nackt - und Adam... »Ich komme mir vor wie der größte Dummkopf der Welt«, sagte Adam. Unbehagliches Schweigen kam auf, und er fuhr fort. »Heute morgen habe ich einen Anruf vom Nationalen Komitee der Partei erhalten. Man spricht davon, mich zum nächsten Präsidentschaftskandidaten aufzubauen.« Er zögerte. »Das Problem ist, daß es für mich sehr ungünstig wäre, wenn ich mich scheiden ließe, solange Mary Beth schwanger ist. Ich weiß einfach nicht, was ich tun soll. Ich habe drei Nächte lang nicht geschlafen.« Er blickte Jennifer an und sagte: »Ich finde es grauenhaft, dich darum bitten zu müssen, aber - wäre es möglich, daß wir noch etwas warten, bis die Dinge sich von selbst beruhigt haben?« Jennifer blickte Adam über den Tisch an und fühlte einen so tiefen Schmerz, ein so unerträgliches Gefühl von Verlust, daß sie glaubte, es nicht ertragen zu können. »In der Zwischenzeit sehen wir uns so oft wie möglich«, sagte Adam. »Wir...«
Jennifer zwang sich, etwas zu sagen. Sie sagte: »Nein, Adam. Es ist aus.«
Er starrte sie an. »Das meinst du doch nicht im Ernst, Liebling. Wir werden einen Weg finden...«
»Es gibt keinen Weg. Deine Frau und dein Kind werden nicht einfach vom Erdboden verschwinden. Zwischen dir und mir ist alles zu Ende. Es war schön, Adam. Ich habe jede Minute genossen.« Sie stand auf, denn sie wußte, daß sie zu schreien beginnen würde, wenn sie nicht auf der Stelle das Restaurant verließ.
»Wir werden uns nie wiedersehen.«
Sie konnte es nicht ertragen, in seine von plötzlichem Schmerz erfüllten Augen zu blicken.
»Um Himmels willen, Jennifer! Tu das nicht. Bitte, tu das nicht! Wir...«
Den Rest verstand sie nicht mehr. Sie hastete auf die Tür zu, hinaus aus dem Restaurant, hinaus aus Adams Leben.
Adams Anrufe wurden weder angenommen noch erwidert. Seine Briefe wurden ungeöffnet zurückgesandt. Auf den letzten Brief, den Jennifer erhielt, schrieb sie das Wort »Verstorben« und warf ihn wieder in den Briefkasten. Das stimmt auch, dachte Jennifer. Ich bin tot.
Sie hatte nie gewußt, daß Schmerz so heftig sein konnte. Sie mußte allein sein, und dennoch war sie nicht allein. Ein anderes menschliches Wesen wuchs in ihr heran, ein Teil von ihr, ein Teil von Adam. Und sie würde es zerstören. Sie zwang sich, darüber nachzudenken, wo sie die Abtreibung vornehmen lassen würde... Vor ein paar Jahren hätte eine Abtreibung irgendeinen Quacksalber in einem schäbigen Hinterzimmer über einer schmutzigen Seitengasse bedeutet, aber wenigstens das war jetzt nicht mehr unumgänglich. Sie konnte sich in eine Klinik begeben und die Operation von einem angesehenen Chirurgen durchführen lassen. Irgendwo außerhalb von New York City. Jennifers Foto war zu oft in der Zeitung erschienen, sie war zu häufig im Fernsehen aufgetreten. Sie brauchte Anonymität, irgendeinen Ort, an dem keine Fragen gestellt wurden. Es durfte nie, nie eine Verbindung zwischen ihr und Adam Warner hergestellt werden können. Senator Adam Warner. Ihr Baby mußte unbekannt sterben. Einmal versuchte Jennifer sich vorzustellen, wie das Baby wohl ausgesehen hätte, und sie begann so heftig zu weinen, daß sie beinahe erstickt wäre.
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