»Ja«, flüsterte Jennifer. »Ich möchte es nur hinter mich bringen.«
Dr. Linden nickte. »Genau das werden wir jetzt tun.« Er nahm eine Spritze von dem Tisch neben ihrem Bett und bewegte sich auf Jennifer zu. »Was ist darin?«
»Demerol und Phenergan, damit Sie sich entspannen. In ein paar Minuten gehen wir in den Operationssaal.« Er injizierte Jennifer den Inhalt der Spritze. »Ist das Ihre erste Abtreibung?«
»Ja.«
»Dann will ich Ihnen erklären, wie wir vorgehen. Es ist eine schmerzlose und relativ einfache Prozedur. Im Operationssaal erhalten Sie eine vollständige Narkose. Wenn Sie bewußtlos sind, werden wir einen Spiegel in Ihre Vagina einführen, damit wir sehen können, was wir tun. Dann werden wir den Gebärmutterhals mit verschieden großen Metalldilatatoren erweitern und anschließend den Uterus mit einer Kürette auskratzen. Noch irgendwelche Fragen?«
»Nein.«
Ein warmes Gefühl von Schläfrigkeit beschlich sie. Sie konnte spüren, wie ihre Spannung wie durch Zauberei verschwand und die Wände des Zimmers zu verschwimmen begannen. Sie hatte den Arzt noch etwas fragen wollen, aber sie wußte nicht mehr, was es war... irgend etwas wegen des Babys... es schien nicht länger wichtig. Wichtig war einzig und allein, daß sie tat, was sie zu tun hatte. In ein paar Minuten würde alles vorbei sein, und sie konnte ein neues Leben beginnen. Sie glitt in einen wundervollen, traumhaften Zustand hinein... ein paar Leute traten in ihr Zimmer und hoben sie auf einen Operationswagen... durch das dünne Krankenhemd an ihrem Rücken spürte sie die Kälte des Metalls. Sie wurde den Flur entlanggerollt und zählte die Lampen an der Decke. Es schien ihr wichtig, daß sie sich nicht verzählte, aber sie wußte nicht genau warum. Sie wurde in den weißen, antiseptischen Operationssaal gefahren und dachte: Hier wird mein Baby sterben. Keine Angst, kleiner Adam. Ich lasse nicht zu, daß sie dir weh tun. Und ohne es zu wollen, begann sie zu weinen. Dr. Linden berührte ihren Arm. »Keine Sorge. Es wird nicht weh tun.«
Tod ohne Schmerzen, dachte Jennifer. Das ist schön. Sie hatte ihr Baby lieb. Sie wollte nicht, daß man ihm weh tat.
Jemand legte ihr eine Sauerstoffmaske aufs Gesicht, und eine Stimme sagte: »Tief einatmen.«
Jennifer fühlte, wie Hände ihr Klinikhemd hochschoben und ihre Beine spreizten.
Gleich passiert es. Es passiert hier und jetzt. Mein kleiner Adam, mein kleiner Adam, mein kleiner Adam. »Entspannen Sie sich«, sagte Dr. Linden. Jennifer nickte. Lebe wohl, mein Baby. Sie spürte, wie sich ein Stahlinstrument zwischen ihren Schenkeln zu bewegen begann und langsam in sie hineinschlüpfte. Es war der Finger des Todes, der ihr Baby ermorden würde, wenn er es berührte. Sie hörte eine fremde Stimme schreien. »Aufhören! Aufhören! Aufhören!«
Und Jennifer blickte auf zu den überraschten Gesichtern über ihr und merkte, daß es ihre eigene Stimme war. Die Maske wurde fester gegen ihr Gesicht gepreßt. Sie wollte sich aufsetzen, aber die Lederriemen hielten sie unten. Sie wurde in einen Strudel gezogen, tiefer und immer tiefer. Sie ertrank. Das letzte, an das sie sich erinnerte, war das große, weiße Licht an der Decke, das um seine eigene Achse wirbelte, sich dann herabsenkte und in ihren Schädel eindrang.
Jennifer erwachte in ihrem Zimmer im Krankenhausbett. Durch das Fenster konnte sie sehen, daß es draußen dunkel war. Ihr Körper fühlte sich zerschlagen an, und sie fragte sich, wie lange sie bewußtlos gewesen war. Sie war am Leben, aber ihr Baby... Sie tastete nach dem Klingelknopf an ihrem Bett und drückte ihn. Von Panik erfüllt, fuhr sie fort, den Knopf zu drücken. Sie konnte nicht aufhören.
Eine Schwester erschien im Türrahmen, dann verschwand sie schnell wieder. Einige Sekunden später eilte Dr. Linden herein. Er trat an das Bett und zog Jennifers Finger sanft von dem Klingelknopf.
Jennifer griff wild nach seinem Arm und keuchte: »Mein Baby... es ist tot...!«
Dr. Linden sagte: »Nein, Mrs. Parker. Es lebt. Ich hoffe, es wird ein Junge werden. Sie haben immer wieder seinen Namen gerufen: Adam!«
Weihnachten nahte und ging vorüber, und das neue Jahr, 1973, brach an. Der Februarschnee wurde von den Märzstürmen davongeweht, und Jennifer merkte, daß es an der Zeit war, mit der Arbeit aufzuhören. Sie berief eine Konferenz der Mitarbeiter im Büro ein. »Ich nehme Urlaub«, verkündete sie. »Während der nächsten fünf Monate werde ich nicht dasein.« Überraschtes Gemurmel erhob sich. Dan Martin fragte: »Aber wir können dich erreichen, nicht wahr?«
»Nein, Dan. Ich werde nicht zu erreichen sein.« Ted Harris blickte sie durch seine dicken Brillengläser an. »Jennifer, du kannst doch nicht einfach...«
»Ich fahre Ende der Woche.« Ihr Ton war so bestimmt, daß keine weiteren Fragen kamen. Der Rest der Konferenz war den noch anhängigen Fällen gewidmet. Als alle anderen gegangen waren, fragte Ken Bailey: »Hast du dir das wirklich genau überlegt?«
»Ich habe keine Wahl, Ken.«
»Ich weiß nicht, wer der Hurensohn ist, aber ich hasse ihn.« Jennifer legte ihm die Hand auf den Arm. »Dank' dir. Ich werde es schaffen.«
»Es wird verdammt hart werden, weißt du das? Kinder werden erwachsen. Sie stellen Fragen. Er wird wissen wollen, wer sein Vater ist.«
»Damit werde ich fertig.«
»Okay.« Seine Stimme wurde sanft. »Wenn ich irgend etwas für dich tun kann, egal was - ich bin immer für dich da.« Sie umarmte ihn. »Danke, Ken. Ich - ich danke dir.«
Jennifer saß noch lange, nachdem alle anderen gegangen waren, allein im Dunkel des Büros und dachte nach. Sie wußte, daß sie Adam immer lieben würde. Nichts konnte das jemals ändern. Und sie war sicher, daß auch er sie noch liebte. Irgendwie, dachte sie, wäre es einfacher, wenn er mich nicht mehr liebte. Es war eine unfaßbare Ironie des Schicksals, daß sie einander liebten und nicht zusammen sein konnten, daß ihrer beider Leben sich weiter und weiter voneinander entfernen würden. Adams Leben würde von nun an in Washington mit Mary Beth und ihrem Kind weitergehen. Vielleicht würde er eines Tages ins Weiße Haus ziehen. Jennifer dachte an ihren eigenen Sohn, der heranwuchs und dann wissen wollte, wer sein Vater war. Sie würde es ihm nie sagen können, so wie Adam nie erfahren durfte, daß sie ihm ein Kind geboren hatte, denn das würde ihn zerstören.
Und wenn es irgend jemand sonst erfuhr, würde es Adam ebenfalls zerstören, nur auf eine andere Weise.
Jennifer hatte beschlossen, ein Haus auf dem Land zu kaufen -irgendwo außerhalb von Manhattan, wo sie und ihr Sohn zusammen in ihrer eigenen kleinen Welt leben konnten. Sie fand das Haus durch reinen Zufall. Sie war auf dem Weg zu einem Mandanten in Long Island gewesen und hatte den Long Island Expressway bei der Abfahrt 36 verlassen, war dann falsch abgebogen und hatte sich in Sands Point wiedergefunden. Die Straßen waren ruhig und von schlanken, anmutigen Bäumen überschattet, die Häuser standen nicht direkt an der Straße, sondern lagen alle inmitten eines eigenen kleinen Gartens. An einem dieser weißen, im Kolonialstil erbauten Häuser in der Sands Point Road hing ein Schild mit der Aufschrift Zu verkaufen. Das Grundstück war eingezäunt, und ein schönes, schmiedeeisernes Tor versperrte den Zugang zu einer von Lampenpfosten gesäumten Auffahrt. Zu beiden Seiten der Auffahrt erstreckte sich Rasen, und Eiben verbargen das Haus. Von der Straße aus sah es hinreißend aus. Jennifer notierte den Namen des Maklers und machte für den nächsten Nachmittag einen Besichtigungstermin aus.
Der Makler war einer jener kernigen, ständig unter Hochdruck stehenden Geschäftsleute, die Jennifer verabscheute. Aber sie kaufte ja nicht sein Wesen, sondern ein Haus. Er sagte: »Es ist eine Perle. Jawoll, eine richtige Perle. Mindestens hundert Jahre alt, und dazu noch in Tipptopp-Verfassung. Absolut Tipptopp.« Tipptopp war in jedem Fall eine Übertreibung. Die Zimmer waren luftig und geräumig, aber sie bedurften dringend einiger Reparaturen. Es wäre schön, dieses Haus wiederherzustellen und einzurichten, dachte Jennifer. Im ersten Stock, gegenüber vom großen Schlafzimmer lag ein Raum, der gut in ein Kinderzimmer verwandelt werden konnte. Sie würde ihn in Blau und... »Wollen Sie mal durch den Garten gehen?« Das Baumhaus gab den Ausschlag. Es erhob sich auf einer Plattform hoch oben in einer stämmigen Eiche. Das Baumhaus ihres Sohnes. Das ganze Grundstück umfaßte etwa drei Morgen, und der Rasen hinter dem Haus fiel sacht ab bis zum Sund, in den ein Anlegeplatz ragte. Es war eine wundervolle Umgebung für ein heranwachsendes Kind, mit viel Platz zum Herumtollen. Später würde er ein kleines Boot bekommen. Hier hatten sie alle Abgeschlossenheit, die sie brauchten, denn Jennifer war entschlossen, daß dies eine Welt ausschließlich für sie und ihr Kind bleiben sollte. Am nächsten Tag kaufte sie das Haus.
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