Jennifer war verwirrt. Für jedes Unrecht sollte es theoretisch ein juristisches Pflaster geben. War in Connie Garretts Fall Gerechtigkeit geschehen? Sie blickte auf die Uhr an der Wand. Es war sechs Uhr dreißig. Noch einmal griff Jennifer nach dem Telefon und wählte Melvin Hutchersons Nummer. »Haben Sie sich die Vorgeschichte des Lastwagenfahrers angesehen?« fragte sie.
Eine verschlafene Stimme fragte: »Jesus! Sind Sie eigentlich noch normal? Wann schlafen Sie?«
»Der Fahrer des Lastwagens. Haben Sie ihn überprüft?«
»Lady, Sie fangen an, mich zu belästigen.«
»Es tut mir leid«, sagte Jennifer, »aber ich muß es wissen.«
»Die Antwort lautet ja. Er hatte einen hervorragenden Ruf. Es war sein erster Unfall.«
Also ebenfalls eine Einbahnstraße. »Ich verstehe.« Jennifer dachte intensiv nach.
»Miß Parker«, sagte Melvin Hutcherson, »tun Sie mir einen großen Gefallen, wollen Sie? Falls Sie noch mehr Fragen haben sollten, rufen Sie mich während der Bürozeit an.«
»Entschuldigung«, erwiderte Jennifer geistesabwesend. »Schlafen Sie weiter.«
»Herzlichen Dank!«
Jennifer legte auf. Es war Zeit, sich anzuziehen und an die Arbeit zu gehen.
Es war drei Wochen her, seit Jennifer mit Adam bei Lutèce zu Abend gegessen hatte. Sie versuchte, ihn zu vergessen, aber alles erinnerte sie an Adam: eine zufällige Redewendung, der Hinterkopf eines Fremden, ein Schlips, der dem ähnelte, den er getragen hatte. Es gab eine Menge Männer, die sich mit ihr verabreden wollten. Sie erhielt Anträge von Mandanten, von Anwälten, mit denen sie im Gericht die Klingen gekreuzt hatte, sogar von einem Nachtschnellrichter, aber Jennifer war an keinem von ihnen interessiert. Sie strahlte eine Selbständigkeit aus, die auf Männer herausfordernd wirkte. Ken Bailey war immer da, aber diese Tatsache linderte ihre Einsamkeit nicht. Es gab nur einen, der das konnte, hol' ihn der Teufel!
Er rief am Montag an. »Ich dachte, ich versuche mein Glück und erkundige mich, ob Sie zum Mittagessen noch frei sind.« Sie war nicht frei. Sie sagte: »Natürlich bin ich frei.« Sie hatte sich geschworen, freundlich und doch von distanzierter Höflichkeit zu sein, falls Adam noch einmal anriefe - aber auf keinen Fall würde sie zu seiner Verfügung stehen. In dem Augenblick, in dem sie seine Stimme hörte, vergaß sie alle Vorsätze und sagte: Natürlich bin ich frei. Genau das, was sie als Allerletztes hatte sagen wollen.
Sie aßen in einem kleinen Restaurant in Chinatown zu Mittag und unterhielten sich zwei Stunden lang, die wie zwei Minuten schienen. Sie sprachen über ihren Beruf, Politik und Theater und lösten all die komplexen Probleme der Welt, die noch einer Lösung bedurften. Adam war brillant, scharfsinnig und faszinierend. Er war aufrichtig daran interessiert, was Jennifer tat, und freute sich mit kindlichem Stolz über jeden ihrer Erfolge. Mit gutem Grund, dachte Jennifer. Ohne ihn wäre ich längst wieder in Kelso, Washington.
Als Jennifer wieder ins Büro zurückkehrte, wartete Ken Bailey auf sie. »Gut gegessen?«
»Ja, danke.«
»Wird Adam Warner ein Klient?« Sein Ton war zu beiläufig.
»Nein, Ken. Wir sind nur Freunde.« - Das stimmte.
In der nächsten Woche lud Adam Jennifer zum Essen in den privaten Speiseraum seiner Kanzlei ein. Sie war beeindruckt von dem riesigen, hochmodernen Bürokomplex. Adam stellte sie verschiedenen Mitgliedern des Unternehmens vor, und Jennifer fühlte sich wie eine kleine Berühmtheit, denn sie schienen alles von ihr zu wissen. Sie traf auch Stewart Needham, den Seniorpartner. Er war von distanzierter Höflichkeit ihr gegenüber, und ihr fiel ein, daß Adam mit seiner Nichte verheiratet war.
Adam und Jennifer speisten in dem walnußgetäfelten Eßzimmer, das von einem Ober und zwei Kellnern regiert wurde. »Hier werden die Probleme der Partner gelöst«, sagte Adam. Jennifer fragte sich, ob er auf sie anspielte. Es fiel ihr schwer, sich auf das Essen zu konzentrieren.
Den ganzen Nachmittag über dachte sie an Adam. Sie wußte, daß sie ihn vergessen mußte und ihn nicht mehr sehen durfte. Er gehörte einer anderen Frau.
Am Abend ging Jennifer mit Ken Bailey ins Theater. Sie sahen Two by Two, die neue Show von Richard Rogers. Sie traten gerade ins Foyer, als ihnen ein aufgeregtes Raunen von der Menge entgegenscholl, und Jennifer drehte sich neugierig um. Eine lange, schwarze Limousine war unter das Vordach gefahren. Ein Mann und eine Frau stiegen aus. »Er ist es!« rief eine Frau, und die Leute drängten sich um den Wagen. Der stämmige Chauffeur trat zur Seite, und Jennifer erblickte Michael Moretti und seine Frau. Die Augen der Menge konzentrierten sich auf ihn. Er war eine Art Volksheld, attraktiv genug, um ein Filmstar sein zu können, und wagemutig genug, um jedermanns Phantasie zu beschäftigen. Jennifer beobachtete, wie Michael Moretti und seine Frau sich ihren Weg durch die Menge bahnten. Michael ging kaum einen Meter von Jennifer entfernt vorbei, und für einen Moment trafen sich ihre Augen. Sie bemerkte, daß seine Augen so dunkel waren, daß sie kaum die Pupillen sehen konnte. Ein paar Sekunden später war er im Zuschauerraum verschwunden.
Jennifer konnte sich nicht mehr auf die Show konzentrieren. Der Anblick von Michael Moretti hatte eine Flut demütigender Erinnerungen zurückgebracht. Nach dem ersten Akt bat sie Ken, sie nach Hause zu bringen.
Adam rief Jennifer am nächsten Tag an, und Jennifer nahm ihre ganze Kraft zusammen, um sich gegen die erwartete Einladung zu wappnen. Danke schön, Adam, aber ich habe furchtbar viel Arbeit.
Aber Adam sagte nur: »Ich verlasse das Land für eine Weile.« Es war wie ein Schlag in den Magen. »Wie - wie lange werden Sie fort sein?«
»Nur ein paar Wochen. Ich rufe Sie an, wenn ich zurück bin.«
»Gut«, sagte Jennifer freundlich. »Gute Reise!« Sie fühlte sich, als wenn jemand gestorben wäre. Sie sah Adam am Strand von Rio, umlagert von halbnackten Mädchen, oder in einem Penthouse in Mexiko City, wo er Margaritas mit einer eingeborenen, dunkelhäutigen Schönheit trank, oder in einem Schweizer Chalet, auf einem Bett mit... Halt! Jennifer rief sich zur Ordnung. Sie hätte ihn fragen sollen, wohin er fuhr. Vielleicht war es nur eine Geschäftsreise an irgendeinen langweiligen Ort, wo er keine Zeit für Frauen hatte, vielleicht mitten in der Wüste, wo er vierundzwanzig Stunden am Tag arbeiten mußte.
Sie hätte die Rede ganz beiläufig darauf bringen sollen. Werden Sie einen langen Flug haben? Sprechen Sie irgendwelche Fremdsprachen? Wenn Sie nach Paris kommen, bringen Sie mir Vervaine-Tee mit. Ich nehme an, solche Blitzreisen sind grauenvoll, nicht? Nehmen Sie Ihre Frau mit? Schnappe ich langsam über? Ken hatte ihr Büro betreten und starrte sie an. »Du führst Selbstgespräche. Geht es dir gut?«
Nein! wollte Jennifer schreien. Ich brauche einen Arzt. Ich brauche eine kalte Dusche. Ich brauche Adam Warner. Sie sagte: »Danke, es geht schon. Ich bin nur ein bißchen müde.«
»Warum gehst du heute nicht mal früh schlafen?« Sie fragte sich, ob Adam Warner heute früh zu Bett gehen würde.
Pater Ryan rief an. »Ich habe Connie Garrett besucht. Sie erzählte, Sie hätten ein paarmal bei ihr vorbeigeschaut.«
»Ja.« Die Besuche dienten dazu, ihre Schuldgefühle zu betäuben, weil sie Connie nicht helfen konnte. Es war frustrierend.
Jennifer stürzte sich in Arbeit, und dennoch schienen die Wochen dahinzuschleichen. Fast jeden Tag war sie im Gericht, und jeden Abend saß sie über Akten.
»Tritt kürzer, Jennifer. Du bringst dich noch um«, warnte Ken sie.
Aber Jennifer mußte sich körperlich und geistig bis an den Rand der Erschöpfung bringen. Sie durfte keine Zeit zum Nachdenken haben. Ich bin eine Idiotin, dachte sie. Eine reine, unverfälschte Idiotin. Vier Wochen vergingen, bevor Adam anrief.
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