»Es war mein Fehler, fürchte ich. Ich überquerte eine Kreuzung, trat vom Bürgersteig, rutschte aus und stürzte direkt vor einen Lastwagen.«
»Wie lange ist das her?«
»Drei Jahre im letzten Dezember. Ich war auf dem Weg zu Bloomingdale, um Weihnachtseinkäufe zu erledigen.«
»Was geschah, nachdem der Lastwagen Sie angefahren hatte?«
»Ich kann mich an nichts mehr erinnern. Ich erwachte in einem Krankenhaus. Die Ambulanz hatte mich dorthin gebracht. Meine Wirbelsäule war verletzt. Dann stellten sie fest, daß meine Knochen beschädigt waren, und es wurde immer schlimmer, bis...« Sie hörte auf zu reden und versuchte, mit den Schultern zu zucken. Es war eine mitleiderweckende Geste. »Sie wollten mir künstliche Gliedmaßen geben, aber sie funktionierten bei mir nicht.«
»Haben Sie Klage erhoben?«
Connie blickte Jennifer verwirrt an. »Hat Pater Ryan Ihnen das nicht erzählt?«
»Was erzählt?«
»Mein Anwalt hat die Firma, der der Wagen gehörte, verklagt. Aber wir haben verloren. Wir haben Berufung eingelegt und wieder verloren.«
Jennifer sagte: »Er hätte das erwähnen sollen. Wenn das Berufungsgericht Sie abgewiesen hat, fürchte, ich, daß man nichts mehr tun kann.«
Connie Garrett nickte. »Ich habe auch nicht wirklich daran geglaubt. Ich dachte nur - nun, Pater Ryan sagte, Sie könnten Wunder wirken.«
»Das ist sein Gebiet. Ich bin nur Anwältin.« Sie war wütend auf Pater Ryan, weil er Connie Garrett falsche Hoffnung gegeben hatte. Sie würde ein Wörtchen mit ihm reden müssen, beschloß sie ärgerlich.
Die ältere Frau fragte aus dem Hintergrund: »Kann ich Ihnen etwas anbieten, Miß Parker? Etwas Tee und Kuchen vielleicht?«
Jennifer merkte plötzlich, daß sie hungrig war, denn sie hatte keine Zeit gehabt, zu Mittag zu essen. Aber dann stellte sie sich vor, zusehen zu müssen, wie Connie Garrett mit der Hand gefüttert wurde. Sie konnte den Gedanken nicht ertragen.
»Nein, danke«, log sie. »Ich habe gerade gegessen.« Sie wollte nur fort, so schnell wie möglich. Sie suchte nach einer aufmunternden Bemerkung, die ihr das Gehen erleichtern konnte, aber es gab keine. Verdammt sei Pater Ryan! »Es - es tut mir wirklich leid. Ich wünschte, ich...« Connie Garrett lächelte und sagte: »Bitte, machen Sie sich keine Gedanken deswegen.«
Es war das Lächeln. Jennifer war sicher, daß sie an Connies Stelle niemals fähig gewesen wäre, zu lächeln. »Wer war Ihr Anwalt?« hörte sie sich fragen. »Melvin Hutcherson. Kennen Sie ihn?«
»Nein, aber ich werde mit ihm reden.« Ohne es zu wollen, sprach sie weiter. »Ich werde ihn besuchen.«
»Das wäre wirklich nett von Ihnen.« Dankbarkeit schwang in Connie Garretts Stimme mit.
Jennifer dachte, was für ein schreckliches Leben das Mädchen hatte, hilflos in seinem Stuhl, Tag für Tag, Monat für Monat, Jahr für Jahr, unfähig, irgend etwas allein zu tun. »Ich kann Ihnen nichts versprechen, fürchte ich.«
»Natürlich nicht. Aber wissen Sie was, Jennifer? Ich fühle mich besser, bloß weil Sie gekommen sind.« Jennifer stand auf. Normalerweise hätte man sich jetzt die Hand gegeben, aber da war keine Hand zum Schütteln. Schüchtern sagte sie: »Es hat mich gefreut, Sie kennenzulernen, Connie. Sie hören von mir.«
Auf dem Rückweg zu ihrem Büro dachte Jennifer an Pater Ryan und beschloß, daß sie seinen Schmeicheleien nie wieder erliegen würde. Es gab nichts, das man für das arme verkrüppelte Mädchen tun konnte, und es war unanständig, ihr irgendeine Art von Hoffnung zu vermitteln. Aber sie würde ihr Versprechen halten. Sie würde mit Melvin Hutcherson sprechen.
Als Jennifer im Büro anlangte, fand sie eine lange Liste von Nachrichten vor. Sie sah sie rasch durch, auf der Suche nach einer Botschaft von Adam. Es war keine dabei.
Melvin Hutcherson war ein kleiner, zur Kahlköpfigkeit neigender Mann mit einer winzigen Knopfnase und verwaschenen blauen Augen. Er hatte eine schäbige Bürosuite an der West Side, die Armut ausdünstete. Der Tisch der Empfangssekretärin war leer. »Zum Essen«, erklärte Hutcherson. Jennifer fragte sich, ob er überhaupt eine Sekretärin hatte. Er führte sie in seinen Privatraum, der kaum größer war als jener der Sekretärin. »Am Telefon sagten Sie, Sie wollten mit mir über Connie Garrett sprechen.«
»Das ist richtig.«
Er zuckte mit den Schultern. »Da gibt es nicht viel zu sagen. Wir haben geklagt und verloren. Glauben Sie mir, ich habe Himmel und Hölle für sie in Bewegung gesetzt.«
»Haben Sie auch Berufung eingelegt?«
»Ja. Die haben wir auch verloren. Ich fürchte, Sie bemühen sich umsonst.« Er betrachtete sie. »Warum verschwenden Sie Ihre Zeit mit so was? Sie sind heiß. Sie könnten an den ganz großen Fällen arbeiten und sich eine goldene Nase verdienen.«
»Ich tue einem Freund einen Gefallen. Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn ich mir die Abschriften der Verhandlungen anschaue?«
»Bedienen Sie sich«, meinte Hutcherson mit einem Achselzucken. »Sie sind jedem zugänglich.«
Jennifer verbrachte den Abend damit, die Abschriften von Connie Garretts Prozeß zu studieren. Zu ihrer Überraschung hatte Melvin Hutcherson die Wahrheit gesagt: Er hatte wirklich gute Arbeit geleistet. Er hatte sowohl die Stadt wie auch die Nationwide Motors Corporation beklagt und einen Geschworenenprozeß verlangt. Die Jury hatte beide Angeklagten freigesprochen.
Die Straßenbehörde hatte getan, was sie konnte, um mit einem Schneesturm fertig zu werden, der die Stadt in jenem Dezember heimsuchte; ihre gesamte Ausrüstung war im Einsatz gewesen. Die Stadt hatte argumentiert, daß der Schneesturm höhere Gewalt war und daß - wenn überhaupt jemand - Connie Garrett der Fahrlässigkeit zu beschuldigen sei. Jennifer wandte sich den Klagen gegen die Lastwagenfirma zu. Drei Augenzeugen hatten ausgesagt, daß der Fahrer den Wagen zu stoppen versucht hatte, bevor er das Opfer anfuhr, und daß der Wagen zu schleudern begonnen und Connie dann getroffen hatte. Das Urteil zugunsten der Beklagten war vom Berufungsgericht aufrechterhalten und der Fall abgeschlossen worden.
Um drei Uhr morgens war Jennifer mit der Lektüre der Abschrift fertig. Sie knipste das Licht aus, war aber unfähig, zu schlafen. Auf dem Papier war der Gerechtigkeit Genüge getan worden. Aber der Anblick von Connie Garrett ging ihr nicht aus dem Kopf. Ein Mädchen von Anfang Zwanzig ohne Arme und Beine. Jennifer stellte sich vor, wie der Lastwagen das junge Mädchen getroffen hatte, wie sehr es gelitten haben mußte, und dann die Reihe von Operationen, eine schrecklicher als die vorhergegangene, und nach jeder war etwas weniger von ihrem Körper übriggeblieben. Jennifer drehte das Licht wieder an. Sie wählte Melvin Hutchersons Nummer. »In den Abschriften steht nichts über die Ärzte«, sagte Jennifer in den Hörer. »Haben Sie die Möglichkeit einer fehlerhaften Behandlung überprüft?«
Eine verschlafene Stimme fragte: »Wer, zum Teufel, ist da?«
»Jennifer Parker. Haben Sie...«
»Um Himmels willen. Es ist - es ist vier Uhr morgens! Haben Sie keine Uhr?«
»Es ist wichtig. Das Krankenhaus tauchte in dem Prozeß überhaupt nicht auf. Was ist mit diesen Operationen, die man an ihr durchgefühlt hat? Haben Sie sich damit beschäftigt?« Eine Pause entstand, während derer Melvin Hutcherson seine
Gedanken zu sammeln suchte. »Ich habe mit den Oberärzten in der neurologischen und der orthopädischen Abteilung des Krankenhauses gesprochen. Die Operationen waren notwendig, um ihr Leben zu retten. Sie wurden von den besten Ärzten dort ausgeführt, und zwar korrekt. Deswegen habe ich das Krankenhaus nicht beklagt.«
Jennifer fühlte einen scharfen Stich der Enttäuschung. »Ich verstehe.«
»Hören Sie, ich habe Ihnen schon einmal gesagt, Sie vergeuden Ihre Zeit mit dieser Sache. Warum versuchen wir beide nicht einfach, noch ein bißchen zu schlafen?« Und Hutcherson legte auf. Jennifer schaltete das Licht aus und legte sich wieder zurück. Aber an Schlaf war noch weniger zu denken als vorher. Nach einiger Zeit gab Jennifer den Kampf auf, stieg aus dem Bett und kochte sich Kaffee. Sie setzte sich auf das Sofa, nahm kleine Schlucke und sah zu, wie die aufgehende Sonne die Skyline von Manhattan bemalte und sich das schwache Rosa allmählich in strahlendes, explosives Rot verwandelte.
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