«Nein. Ich bin alleine. Ich treffe Christopher zum Segeln. In einer Woche fahre ich wieder nach Hause.«
«Ist das um diese Jahreszeit nicht gefährlich? Das Segeln, meine ich.«
«Überhaupt nicht. Wir machen das doch jedes Jahr. Ist schließlich nie schiefgegangen. «Er sagte dies in einem bemüht leichten Ton, von dem er fand, daß er völlig unecht klang. Laura hätte jetzt nachgehakt und gefragt:»Ist irgend etwas? Stimmt was nicht? Du klingst merkwürdig.«
Aber seine Mutter würde es nicht einmal registrieren, wenn er im Sterben läge. Es war typisch für sie, besorgte Fragen zu stellen, wie die, ob das Segeln zu dieser Jahreszeit vielleicht gefährlich war. Möglich, daß sie sich tatsächlich Gedanken darum machte. Aber manchmal argwöhnte er, daß sie Fragen dieser Art routinemäßig abschoß und sich für deren Beantwortung schon nicht mehr interessierte.
«Britta hat angerufen«, sagte sie.
Er seufzte. Es bedeutete nie etwas Gutes, wenn sich seine Ex-Frau mit seiner Mutter in Verbindung setzte.
«Was wollte sie denn?«
«Jammern. Du hast wieder irgendeine Zahlung an sie nicht überwiesen, und angeblich reicht ihr Geld vorne und hinten nicht.«
«Das soll sie mir selber sagen. Sie braucht sich nicht hinter dich zu klemmen.«
«Du würdest dich regelmäßig verleugnen lassen, wenn sie dich im Büro anruft, behauptet sie. Und daheim… Sie sagt, sie hätte wenig Lust, immer an Laura zu geraten.«
Er bereute es, seine Mutter angerufen zu haben. Irgendwie gab es stets Ärger, wenn er das tat.
«Ich muß Schluß machen, Mutter«, sagte er hastig,»mein Handy hat kaum noch Saft. Ich umarme dich.«
Warum habe ich das gesagt? überlegte er. Warum dieses alberne Ich umarme dich. So reden wir normalerweise gar nicht miteinander.
Es gelang ihm mit einiger Anstrengung, sich von der Standspur wieder in den Verkehr einzufädeln. Er hatte es nicht allzu eilig, pendelte sich auf einer Geschwindigkeit von hundertzwanzig Stundenkilometern ein. Ob seine Mutter nun auch über diesen letzten Satz nachdachte, der für sie eigenartig geklungen haben mußte?
Nein, entschied er, tat sie nicht. Der letzte Satz war an ihr vermutlich ebenso vorbeigerauscht, wie auch sonst alles, was mit anderen Menschen zu tun hatte, von ihr herausgefiltert wurde.
Er fand einen Radiosender, stellte die Musik auf dröhnende Lautstärke. Mit Musik konnte er sich betäuben, so sicher wie andere mit Alkohol. Es kam nicht darauf an, was er hörte. Es mußte nur laut genug sein.
Gegen achtzehn Uhr erreichte er den Rastplatz, von dem aus er Laura anrufen wollte. Wenn sie zusammen nach Südfrankreich fuhren, hielten sie stets an dieser Stelle an, stiegen aus und genossen den Blick auf die Bucht von Cassis mit ihren sie halbmondförmig umfassenden, sanft ansteigenden Weinbergen und auf die oberhalb der Bucht steil aufragenden Felsen. Fuhr er allein — zu dem alljährlichen Segeltörn mit Christopher —, dann rief er Laura von diesem Platz aus an. Dies gehörte zu den stillschweigenden Übereinkünften zwischen ihnen, von denen es viele gab. Laura liebte Rituale, liebte unverrückbar wiederkehrende Momente zwischen ihnen. Er selber hing nicht so daran, hatte aber auch nicht den Eindruck, daß ihre Vorliebe dafür ihn wirklich störte.
Er fuhr die langgezogene, ansteigende Kurve zum Parkplatz hinauf. Der Ort hatte keinerlei Ähnlichkeit mit den sonst üblichen Autobahnraststätten. Eher handelte es sich um einen Ausflugsplatz, um eine Art große Picknickterrasse mitsteinernen Sitzgruppen, kiesbestreuten Wegen, schattenspendenden Bäumen. Der Blick war atemberaubend. Für gewöhnlich überwältigten ihn das Blau des Himmels und das Blau des Meeres. Heute jedoch würden sich die Wolken nicht mehr lichten. Grau und diesig hing der Himmel über dem Meer. Die Stille war schwül und bleiern. Die Luft roch nach Regen.
Ein trostloser Tag, dachte er, als er das Auto parkte und den Motor abschaltete.
Unweit von ihm saß ein anderer einsamer Mann in einem weißen Renault und starrte vor sich hin. Ein älteres Ehepaar hatte an einem der sechseckigen Tische Platz genommen und eine Thermosflasche vor sich hingestellt, aus der sie nun beide abwechselnd tranken. Aus einem Kleinbus quoll eine Familie, Eltern, dazu offensichtlich die Großeltern und eine unüberschaubare Schar von Kindern jeder Altersgruppe. Die Größeren trugen Pizzakartons, die Erwachsenen schleppten Körbe mit Wein- und Saftflaschen.
Wie idyllisch, dachte er, ein warmer Oktoberabend, und sie machen ein Picknick an einem wunderbaren Aussichtsort. Zwei Stunden können sie hier noch sitzen, dann wird es dunkel und kalt. Sie werden wieder alle in diesem Bus verschwinden und nach Hause fahren und satt und glücklich in ihre Betten fallen.
Er selber hatte eigentlich nie Kinder gewollt — sowohl sein Sohn aus erster Ehe als auch die zweijährige Tochter, die er mit Laura hatte, waren aus Unachtsamkeit entstanden —, aber manchmal überlegte er, wie es sich anfühlen mußte, Teil einer großen Familie zu sein. Er sah das keineswegs verklärt: Es bedeutete, ewig vor dem Badezimmer anstehen zu müssen und wichtige Dinge nicht zu finden, weil ein anderer sie ungefragt ausgeliehen hatte, es bedeutete jede Menge Lärm, Unordnung, Dreck und Chaos. Aber es mochte auch Wärme entstehen, ein Gefühl der Geborgenheit und Stärke. Es gab wenig Platz für Einsamkeit und die Angst vor der Sinnlosigkeit.
Zum zweitenmal tippte er eine Nummer in sein Handy. Er mußte nicht lange warten, sie meldete sich sofort. Offensichtlich hatte sie um diese Zeit mit seinem Anruf gerechnet und sich in der Nähe des Telefons aufgehalten.
«Hallo!«Sie klang fröhlich.»Du bist auf dem Pas d’Ouilliers!«
«Richtig!«Er bemühte sich, ihren heiteren, unbeschwerten Ton zu übernehmen.»Zu meinen Füßen liegt das Mittelmeer.«
«Glitzernd im Abendsonnenschein?«
«Eher nicht. Es ist sehr wolkig. Ich denke, es wird noch regnen heute abend.«
«Oh — das kann sich aber schnell ändern.«
«Natürlich. Da mache ich mir keine Sorgen. Sonne und Wind wären für Christopher und mich jedenfalls am schönsten.«
Sie war wesentlich feinfühliger als seine Mutter. Sie merkte, wie angestrengt er war.
«Was ist los? Du klingst merkwürdig.«
«Ich bin müde. Neun Stunden Autofahrt sind keine Kleinigkeit.«
«Du mußt dich jetzt unbedingt ausruhen. Triffst du Christopher noch heute abend?«
«Nein. Ich will früh ins Bett.«
«Grüße unser Häuschen!«
«Klar. Es wird sehr leer sein ohne dich.«
«Das wirst du vor lauter Müdigkeit kaum bemerken. «Sie lachte. Er mochte ihr Lachen. Es war frisch und echt und schien immer aus ihrem tiefsten Inneren zu kommen. Wie auch ihr Schmerz, wenn sie Kummer hatte. Bei Laura waren Gefühle niemals aufgesetzt oder halbherzig. Sie war der aufrichtigste Mensch, den er kannte.
«Kann sein. Ich werde schlafen wie ein Bär. «Er schaute auf das schiefergraue Wasser. Die Verzweiflung kroch bereits wieder langsam und bedrohlich in ihm hoch.
Ich muß, dachte er, von diesem Ort weg. Von den Erinnerungen. Und von dieser glücklichen Großfamilie mit den Pizzakartons und dem Gelächter und der Unbeschwertheit.
«Ich werde noch irgendwo etwas essen«, sagte er.
«Irgendwo? Du gehst doch sicher zu Nadine und Henri?«
«Das ist eine gute Idee. Eine leckere Pizza von Henri wäre jetzt genau das Richtige.«
«Rufst du später noch mal an?«
«Wenn ich im Haus bin«, sagte er.»Ich melde mich, bevor ich ins Bett gehe. In Ordnung?«
«In Ordnung. Ich freue mich darauf. «Durch das Telefon hindurch und über eintausend Kilometer hinweg konnte er ihr Lächeln spüren.
«Ich liebe dich«, sagte sie leise.
«Ich liebe dich auch«, erwiderte er.
Er beendete das Gespräch, legte das Handy neben sich auf den Beifahrersitz. Die Pizza-Familie verbreitete jede Menge Lärm, selbst durch die geschlossenen Wagenfenster drangen die Fetzen von Gesprächen und Gelächter. Er ließ den Motor wieder an und rollte langsam vom Parkplatz.
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