»Ja, deshalb rufe ich dich an«, sagte Lára. »Es geht um zwei Dinge. Ich kümmere mich gerade darum, dass sie neben ihrer Mutter beerdigt wird, und ich hatte gehofft, du würdest zur Beisetzung kommen. Von ihren Verwandten sind nicht mehr viele übrig, und es ist mir wichtig, nicht mit dem Pastor allein dazustehen.«
»Das wäre mir eine große Ehre«, sagte Dóra mitfühlend.
»Gut«, entgegnete Lára. »Ich sage dir Bescheid, sobald der Termin feststeht.« Sie räusperte sich höflich. »Dann wäre da noch die andere Sache. Der Polizist, der die Ermittlungen geleitet hat, war eben bei mir.«
»þórólfur?«, sagte Dóra erstaunt. »Was wollte er?«
»Er hat mir einen Brief gebracht, oder besser gesagt, die Kopie eines Briefes«, erklärte Lára. »Ein Brief, der sechzig Jahre lang unterwegs war. Er ist von Guðný.«
»Wo hat man den denn gefunden?«, fragte Dóra verdutzt. »In der Kohlenkammer?«
»In Kristíns Jackentasche.« Dóra meinte, Lára schluchzen zu hören, aber als sie weitersprach, klang ihre Stimme gefasst. »Als Guðný den Brief schrieb, lag sie im Sterben. Sie wusste, dass es die letzte Möglichkeit war, ihre Geschichte zu erzählen. Zuerst bittet sie mich um Entschuldigung, dass sie mir in ihren früheren Briefen nicht die Wahrheit gesagt hat, sie hat sich nicht getraut, aus Angst, ich würde nach Snæfellsnes kommen und mich bei ihr oder ihrem Vater anstecken. Ich hätte schließlich ein neues Leben in Reykjavík begonnen, das sie nicht zerstören wollte.« Lára zögerte, und Dóra hatte den Eindruck, sie würde den Brief auf der Suche nach einer bestimmten Stelle überfliegen.
»Guðný schreibt hier, dass Magnús Baldvinsson Kristíns Vater ist«, erzählte Lára. »Sie sind sich einmal sehr nahegekommen, als er zu einem Treffen ihres Vaters im Zusammenhang mit der nationalistischen Gruppierung kam; da ist sie schwach geworden. Sie schreibt, sie habe mit keinem anderen Mann geschlafen, weder vorher noch nachher, und sie scherzt, es würden wohl auch kaum mehr werden.«
»Geht aus dem Brief hervor, ob er von dem Kind wusste?«, fragte Dóra. Wenn dem so war, hatte er unmöglich ein Anrecht auf das Erbe.
»Sie schreibt, er sei zum Studium nach Reykjavík gezogen, bevor sie sich über ihren Zustand bewusst war, aber sie hat ihm nach Kristíns Geburt einen Brief geschrieben. Er hat ihr aber nie darauf geantwortet.« Lára seufzte. »Beim Lesen merkt man, dass sie das sehr verletzt hat, vor allem wegen ihrer Tochter. Falls sie ihn irgendwann einmal geliebt hat, dann war das verständlicherweise vorbei.«
»Tja, manches kann man nicht wiedergutmachen«, seufzte Dóra, »selbst weniger tragische Dinge, als sein eigenes Kind nicht anzuerkennen.«
»Guðnýs Anliegen war es, mir ihre Tochter anzuvertrauen«, erklärte Lára. »Als sie den Brief schrieb, war ihr Vater schon tot, und sie wohnte mit ihrer Tochter bei ihrem Onkel Grímur. Guðný wollte Kristín auf keinen Fall in seiner Obhut lassen.«
»Hm, ob Grímur wusste, dass Guðný versucht hat, Kristín in diene Obhut zu bringen?«, fragte Dóra. »Mit Kristín wäre natürlich auch sein gesamter Besitz gegangen.«
»Ich weiß es nicht«, sagte Lára. »Da steht nur, sie sei sich nicht sicher, wann ich den Brief bekommen würde. Sie wollte ihn Grímur nicht für die Post anvertrauen. Sie schreibt, sie würde ihn Kristín mitgeben und hoffen, dass sie ihn jemandem überbringen kann. Sie habe mit Kristín gesprochen und ihr von mir erzählt, wie nett ich sei und dass sie mich vielleicht bald treffen würde. Sie fügt noch hinzu, man könne Kristín den Brief trotz ihres jungen Alters ruhig anvertrauen. Sie sei außergewöhnlich zuverlässig und tüchtig.«
»Zumindest hat sie es geschafft, den Brief zu verstecken.«
»Ja«, klang es vom anderen Ende der Leitung, und nun ließ es sich nicht mehr verhehlen, dass die alte Frau weinte. »Lass uns bei der Beerdigung weiter darüber reden«, sagte Lára mit brüchiger Stimme.
»Natürlich«, sagte Dóra. »Ich komme. Du kannst dich auf mich verlassen.« Sie grüßte die alte Frau und legte auf.
Dóra war während des Gesprächs in dem kurzen Flur auf und ab gegangen, ohne ihre Umgebung wahrzunehmen. Erst jetzt wurde ihr klar, dass hinter den meisten Türen Frauen damit beschäftigt waren, die Menschheit zu vermehren. Die Schreie aus Kreißsaal C kamen ihr bekannt vor, und sie lauschte, in der Hoffnung, Babygeschrei zu hören. Aber sie konnte nichts Derartiges hören, zumal es für eine so kleine Lunge schwierig wäre, den Lärm der werdenden Mutter zu übertönen. Dóra konnte einen Satz zwischen dem Schreien verstehen: » Das kann doch nicht richtig sein! « Dóra stimmte Sigga im Geiste zu und lächelte. Offenbar war die Geburt in vollem Gang. Sie wartete mit dem Ohr an der Tür, und nach mehrmaligem lauten Stöhnen und weiteren Schreien war das herzzerreißende Weinen eines Babys zu hören. Dóra schossen die Tränen in die Augen, und sie entfernte sich von der Tür. Von Gylfi war nichts zu hören gewesen. Dóra hoffte, dass er nicht ohnmächtig geworden war. Sie atmete auf, als sie seine Stimme hörte: » Igitt, tu das weg! « Dóra erschrak, beruhigte sich jedoch wieder, als sie Siggas Mutter sagen hörte: » Stell dich nicht so an, Junge. Sie zeigt euch nur die Nachgeburt. Manche trocknen sie und machen daraus einen Lampenschirm. « Dóra konnte nur hoffen, dass sie dieses Jahr keinen solchen Schirm zu Weihnachten bekäme.
Die Tür ging auf, Gylfi kam heraus und fiel seiner Mutter um den Hals. Er glühte wie Sonnenschein auf der Heide. »Es war ekelhaft, aber ich bin Vater! Es ist ein Junge!«
Dóra küsste ihn mehrmals auf beide Wangen. »Mein lieber, lieber Gylfi«, sagte sie zwischen den Küssen, »herzlichen Glückwunsch, mein lieber Junge. Ist er süß?«
»Sieh ihn dir selbst an«, sagte er und ging wieder hinein.
Dóra wollte nicht in den Raum platzen und steckte nur ihren Kopf durch die Tür. Undeutlich erkannte sie Sigga und die Hebamme am Ende der Geburtsliege, ganz gebannt von dem Baby im Arm der frischgebackenen Mutter.
Wie hypnotisiert betrat Dóra den Raum. Sie war Oma. Nachdem sie ihren Enkel eine Weile betrachtet hatte, wurde sie von dem unerfindlichen Bedürfnis gepackt, zu Matthias ins Hotel zu fahren.
SAMSTAG, 24. JUNI 2006
Dóra trat an das offene Grab. »Von der Erde bist du genommen, und zur Erde kehrst du zurück«, sagte sie leise und ließ die Erde aus ihrer Hand auf den kleinen Sarg rieseln. Sie bekreuzigte sich und trat zurück. Es nieselte auf die überschaubare Gruppe herab, die sich in der kleinen Kirche versammelt hatte und schweigend hinter dem Sarg über den Friedhof gegangen war. Dóra hatte auf dem kurzen Weg Láras Hand gehalten. Sie und ein älterer Mann schienen die Einzigen in der Gruppe zu sein, denen das Ganze naheging. Er sah furchtbar aus. Es war Magnús Baldvinsson. Er war zu Beginn der Messe erschienen und hatte sich leise ganz hinten in die Kirche gesetzt. Beim Leichenzug hatte er darauf geachtet, ein paar Schritte hinter den anderen zu gehen. Er krallte sich mit beiden Händen an seinem Hut fest und starrte auf den Boden, wann immer Dóra zu ihm hinübersah. Er tat ihr leid.
Dóra verfolgte, wie der Pastor mit geschlossenen Augen eine Strophe aus einem alten Psalm aufsagte. Sie tat es ihm nach und hatte das Gefühl, dass Kristín der Vers gefallen hätte:
Nun schließe ich die Augen,
oh, Gott, lass deine Gnade
mich schützen diese Nacht.
Ach, wenn du mich zu dir rufst,
lass deinen Engel wachen
über meinen Schlaf.
Anschließend sang die Gruppe leise Gleichwie die eine Blume, und einer nach dem anderen nahm zum Abschluss den Segen des Pfarrers entgegen.
Am Ende blieben nur noch drei übrig: Lára, Dóra und Magnús. Mit hängendem Kopf stand Magnús etwas abseits.
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