Lára schaute Málfríður an und stand auf. Plötzlich packte sie die Wut. »Es würde mich nicht wundern, wenn sich herausstellte, dass sie deinem Vater ähnlicher ist als Guðný und Kristín.«
»Man kann nur hoffen, dass Málfríður sich auch noch an die Wahrheit hält, wenn sie mit dem konfrontiert wird, was ihrer Enkelin bevorsteht«, sagte Dóra und legte auf. Sie brauchte keine weiteren Zeugen; das Telefonat mit Lára räumte sämtliche Zweifel an Berthas Schuld aus. Dóra hatte am Straßenrand angehalten, als die Frau anrief. Nun fuhr sie ganz langsam durch den dichten Nebel weiter nach Tunga. Streckenweise schien sich der Nebel zu lichten, und alle möglichen Phantasiegestalten erschienen in der moosbewachsenen Lava auf beiden Seiten der Straße. Als der Nebel wieder dichter wurde und die wundersamen Erscheinungen verschluckte, lief Dóra unvermutet ein Schauer über den Rücken. Sie hoffte, nicht vom richtigen Weg abgekommen zu sein. Die Strecke war nicht lang, aber wegen der schlechten Sicht fuhr sie langsam und hatte Schwierigkeiten, sich zu orientieren. Plötzlich meinte sie, einen Mann mit ausgestrecktem Arm am Straßenrand stehen zu sehen, aber es war nur das Schild zum Hof Tunga. Sie bog in den Zufahrtsweg und beschleunigte ein wenig. Kurz darauf sah sie die Umrisse des Gehöfts. Auf dem Vorplatz stand þórólfurs Wagen; Dóra hielt neben ihm an. Der Wagen war leer. Sie stieg aus und ging zur Haustür, aber nach wenigen Schritten erstarrte sie. Durch den Nebel klang leises Kinderweinen. Dóra drehte sich um und versuchte, auszumachen, woher das Geräusch kam, aber es war zwecklos. Das Weinen hörte genauso plötzlich auf, wie es gekommen war. Dóra massierte ihren Arm, um die Gänsehaut zu vertreiben. Was zum Teufel war das? Sie kniff die Augen zusammen. Als sie eine Bewegung in der Nähe des Pferdestalls wahrzunehmen glaubte, zuckte sie zurück. Von Neugier getrieben ging sie in Richtung Stall. Sie trat vorsichtig auf, damit ihre Schritte auf dem Kies nicht zu hören waren.
Als sie beim Pferdestall angekommen war, begann das Weinen von neuem. Dóra drehte sich um, konnte aber nichts sehen. Sie erschrak fast zu Tode, als vor ihr ein lauter Knall ertönte. Die Stalltür war unverschlossen und schlug gegen die Wand. Anscheinend hatte jemand die Tür offen stehen lassen. Als Dóra von drinnen Geräusche hörte, sprang sie schnell zur Seite. Sie drückte sich dicht an die Hauswand und hoffte, im Nebel nicht gesehen zu werden. Aus dem Augenwinkel sah sie die Umrisse eines Menschen in der Türöffnung erscheinen, ihn hinauskommen und die Tür schließen. Dóra war sofort klar, dass das kein gutes Versteck war. »Hallo Bertha«, sagte sie. »Was machst du denn hier?«
Das junge Mädchen erschrak. Es drehte sich um und starrte Dóra entgeistert an. »Ich? Nichts.«
»Ich hab dich aus dem Stall kommen sehen«, entgegnete Dóra. »Kennst du die Leute hier auf dem Hof?«
Das Kinderweinen erklang erneut, und Bertha spähte angestrengt in den Nebel. »Ich hab das Weinen gehört und wollte nachsehen, woher es kommt«, erklärte sie zögernd.
»Im Pferdestall?«, fragte Dóra. »Das Geräusch kommt doch eindeutig von draußen.« Sie musterte das Mädchen, das begonnen hatte, an seiner Unterlippe zu knabbern. »Weißt du, Bertha, Kristíns sterbliche Überreste wurden entdeckt, und du … — Willst du nicht einfach mitkommen und mit der Polizei reden? Sie ist hier auf dem Hof.« Dóra zeigte in die Richtung, in der sie das Wohnhaus vermutete. Sie konnte jetzt kaum mehr die eigene Hand vor Augen erkennen.
»Was meinst du?«, fragte Bertha. Ihr ungezwungenes Gehabe war zwecklos, denn ihre Stimme zitterte. »Was ist das?«, fragte sie, als das Weinen lauter wurde.
»Wird wohl ein Wiedergänger sein«, antwortete Dóra ruhig. »Oder Kristín. Mir scheint, sie hat auch schon deine Großmutter heimgesucht. Komm, gehen wir lieber rein, als hier draußen rumzustehen und darauf zu warten, bis der Geist dreimal um uns herumgelaufen ist. Ich glaube, einmal hat er schon hinter sich.«
Bertha sah Dóra fast besinnungslos an, leichenblass und mit geröteten Augen. »Wie haben sie Kristín gefunden?«, stammelte sie.
»Das spielt keine Rolle. Es musste so kommen. Zum Glück ist es vorbei.«
»Mama und ich werden alles verlieren«, sagte Bertha plötzlich, und Dóra war sich nicht sicher, ob sie mit sich selbst sprach. »Steini auch. Er wohnt in einem unserer Häuser. Seine Eltern haben ihr Land verkauft und sind nach Reykjavík gegangen. Er muss zu ihnen ziehen.« Sie blickte hinaus in den Nebel und atmete tief ein. Dóra sah, dass sich winzige Schweißperlen auf ihrer Stirn und ihren Schläfen gebildet hatten. Das Heulen wurde schwächer und hörte dann ganz auf. Bertha schien ein wenig ruhiger zu werden.
»Es gibt weitaus Schlimmeres, als seinen Besitz zu verlieren, Bertha. Zum Beispiel sein Leben.«
Da erst schaute Bertha sie an. »Eiríkur und Birna hatten es nicht verdient, zu leben. Sie waren schlechte Menschen. Sie hat einen alten Mann erpresst, und Eiríkur hat versucht, mich zu erpressen. Er hat mich angerufen und behauptet, er hätte mich die Séance verlassen sehen. Er wollte Mama davon erzählen und sie sollte ihn für sein Schweigen bezahlen. Er dachte, wir wären furchtbar reich wegen unserer Ländereien hier in Snæfellsnes. Ich hab ihm gesagt, wir sollten uns hier beim Pferdeverleih treffen und dann … — du weißt.«
»Ja, leider.« Dóra überlegte, warum das Mädchen so unkompliziert und natürlich wirkte, obwohl es ganz offensichtlich völlig in seiner eigenen Wahnwelt lebte. »Ich habe Birnas Obduktionsbericht gelesen. Daraus geht hervor, dass sie mehrmals mit einem Stein ins Gesicht geschlagen wurde. Hast du gehofft, man würde sie nicht wiedererkennen?«
»Nein«, antwortete Bertha kurzatmig. »Ich wollte sie am Hinterkopf treffen, aber sie hat sich genau im selben Moment umgedreht, und der Stein hat sie im Gesicht getroffen. Wahrscheinlich hat sie mich kommen hören. Ich wollte es so aussehen lassen, als habe sie sich bei der Vergewaltigung den Kopf auf dem Kies aufgeschlagen, aber ich hab’s vermasselt. Es sollte alles perfekt sein. Ich habe extra darauf geachtet, dass die Leute mich im Hotel sehen. Ich hab mich bei der Séance ganz nach hinten gesetzt und mich rausgeschlichen, als alle auf das Medium gestarrt haben. Dann hab ich das Kajak genommen, um die Sache so schnell wie möglich zu erledigen. Sóldís hatte mir von dem Kajak erzählt und dass sein Besitzer nicht mehr lange bleiben würde. Deshalb musste ich mich beeilen.« Bertha knirschte mit den Zähnen. »Sóldís redet viel. Über sie habe ich von Jónas’ Medikamenten erfahren und dass er sein Handy überall rumliegen lässt. Sie hat mir auch erzählt, was die Sexberaterin verkauft, und andere nützliche Dinge.« Bertha seufzte, ihre Augen wurden feucht. »Es sollte alles so perfekt sein und ist trotzdem schiefgegangen. Birna war nicht sofort tot, also musste ich sie wieder und wieder schlagen. Und wieder.« Bertha musterte ihre Zehen. »Als die Möwen kamen, dachte ich, ich müsste kotzen.«
»Warum hast du ihnen die Nadeln in die Fußsohlen gesteckt?«
»Ich wollte verhindern, dass sie zu Wiedergängern werden. Damit tut man niemandem einen Gefallen, weder den Toten noch den Lebendigen.« Bertha war jetzt kurz davor, zusammenzubrechen.
»Was hast du eigentlich da drinnen gemacht?«
»Ich habe die Medikamente versteckt«, antwortete Bertha mit klangloser Stimme. »Ich hab gehofft, der Verdacht würde auf Bergur und Rósa fallen, wenn Jónas freigelassen wird. Als die Polizei entdeckt hat, dass jemand anders die SMS an Birna geschickt hat, war ich beunruhigt.« Sie seufzte und blickte in Dóras Augen. »Ich hab sein Handy geklaut. Es war alles so leicht, nachdem ich entschieden hatte, wie man am besten vorgeht. Birna musste aufgehalten werden. Sie hat nicht auf mich gehört, als ich ihr gesagt habe, dass das ein schlechter Bauplatz ist. Wenn sie nur auf mich gehört hätte, wäre alles in Ordnung gewesen.« Bertha zögerte. »Aber ich hab’s gemacht, um Steini zu retten«, sagte sie. Dóra war sich nicht sicher, ob Bertha versuchte, sich vor ihr und vor ihrem eigenen Gewissen zu rechtfertigen. »Das war das mindeste, was ich tun konnte. Es ist meine Schuld, was mit ihm passiert ist. Ich hab ihn an dem Abend, als der Unfall passiert ist, angerufen und gebeten, mich abzuholen. Er kann nicht in Reykjavík leben. Jetzt geht es ihm noch schlechter, weil er glaubt, was ich getan habe, wäre seine Schuld. Er bittet mich ständig, ihm zu verzeihen. Aber ich habe selbst entschieden, mich für ihn einzusetzen, also gibt’s nichts zu entschuldigen. Ich hab es nur für ihn getan.« Ihre Knie gaben nach.
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