»Es war das Foto, das Jónas so aufgewühlt hat«, erklärte Dóra. »Er meinte, er hätte einen Geist gesehen, der genauso aussah wie die Frau auf diesem Foto. Zuletzt hat er den Geist in seiner Wohnung gesehen.« Sie schloss die Augen und rief sich das Bild von Guðnýs hübschem Gesicht in Erinnerung. »Ich vermute, der Geist war Bertha, die die Schlaftabletten geklaut hat. Vielleicht hat sie nach etwas gesucht, was Aufschluss über Jónas’ Pläne für das neue Gebäude gibt. Er hat sie überrascht, und mein Gefühl sagt mir, dass er völlig verwirrt war, nicht mehr wusste, ob er einen lebendigen Menschen oder einen Wiedergänger sieht. Vielleicht wollte sie Birna die Schlaftabletten verabreichen, hat sich aber nicht mehr getraut, weil Jónas sie gesehen hatte. Als sie schließlich Eiríkur umbringen wollte, hielt sie es für ungefährlich oder musste die Tabletten einfach verwenden, weil sie das einzig verfügbare Betäubungsmittel waren. Wahrscheinlich war sie auch der Geist, der draußen hinter dem Hotel im Nebel gesehen wurde. Ich vermute, sie hat dort mit einer Schaufel nach der Falltür gesucht. Vielleicht hat sie gehofft, Kristíns Knochen beseitigen zu können, bevor sie gefunden werden.«
»Was willst du jetzt tun?«, fragte Matthias. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass diese Mutmaßungen nicht ausreichen. Warum hat sie beispielsweise Eiríkur umgebracht?«
Dóra stieß kräftig Luft durch die Nase aus. »Ich weiß es auch nicht. Vielleicht steckte er mit ihr unter einer Decke, oder er hat sie beobachtet. So wie es aussieht, ist Bertha die Einzige, die den Grund kennt.«
»Sollten wir das nicht der Polizei erzählen, Dóra? Dieser þórólfur scheint ja ganz in Ordnung zu sein. Er wird bestimmt nicht allzu sauer, wenn du ihn noch einmal auf eine neue Spur bringst. Wobei er vermutlich gerade mit Rósa redet, die du vor einer knappen Stunde für schuldig befunden hast.«
Dóra stöhnte und stand auf. »Ich muss hinfahren und ihn informieren. Je eher desto besser.«
»Cat«, sagte die einzige Person, die sich nicht über die veränderte Situation den Kopf zu zerbrechen schien. Sóley lächelte Matthias an und schaute dann zu ihrer Mama. »Sag ihm, dass ich Englisch kann«, forderte sie hochzufrieden.
»Toll, Liebling«, sagte Dóra und strich über den blonden Schopf. »Du kannst weiterüben, ich muss nämlich mal eben weg. Matthias bleibt bei euch.«
»Dog«, hörte sie Sóley stolz sagen, als sie aus dem Speisesaal huschte und zu ihrem Auto lief.
Lára setzte sich auf dem harten Stuhl zurecht und achtete darauf, ihren Mantel, den sie im Arm hielt, nicht zu zerknautschen. Die mitgebrachten Blumen schienen sich im Wasser nicht zu erholen und hingen schlaff in der Edelstahlvase auf dem Nachttisch. Lára begrüßte die alte Málfríður Grímsdóttir. Sie räusperte sich und nahm die vertrocknete Hand der alten Frau. »Ich konnte an nichts anderes mehr denken. Die Erinnerungen holen mich ein, seit meine Enkelin Sóldís angefangen hat, in dem Hotel zu arbeiten, das inzwischen bei uns in Snæfellsnes steht. Du kennst die Wahrheit, und ich habe gehofft, du würdest mir jetzt alles erzählen wollen. Bevor es zu spät ist.« Sie betrachtete das kränkliche Gesicht der Frau im Bett. Seltsam, wie unterschiedlich das Alter den Menschen doch mitspielte. Málfríður war viel jünger als sie, und dennoch war sie bettlägerig und schien kaum den Kopf hochhalten zu können, während Lára mit geradem Rücken bei ihr saß. Sie hoffte, es schnell hinter sich zu bringen, wenn es bei ihr so weit wäre. Sie wollte auf keinen Fall, dass ihr Leben auf diese Weise verebbte.
Im Augenwinkel der alten Frau bildete sich eine Träne. »Gott möge mir vergeben«, sagte sie und schloss die Augen. Dabei löste sich die Träne und tropfte aufs Kissen. »Ich war so jung. Ich habe mich nicht getraut, Papa zu verletzen, und dann wurde er krank, und ich hatte andere Sorgen.«
»Ich will dich nicht tadeln, Málfríður«, sagte Lára mitfühlend und drückte die Hand der Frau. »Ich weiß, dass du damals nicht mit mir darüber sprechen konntest, aber jetzt haben wir beide nicht mehr viel Zeit, und ich möchte diese Welt nicht verlassen, ohne erfahren zu haben, was mit dem Kind geschehen ist. Das bin ich Guðný schuldig.«
Die Tränen flossen nun unaufhörlich, während Málfríður mit geschlossenen Augen dalag. »Sie ist tot«, sagte sie mit brüchiger Stimme. »Papa hat es getan.« Sie schluchzte, und Lára wartete geduldig darauf, dass sie sich wieder beruhigte. »Er hat sie in den Kohlenkeller gesperrt. Sie war die ganze Nacht über da draußen.
Ich war drüben in Kirkjustétt, um ihre Puppe zu holen, die sie so vermisste, und da hab ich es durchs Fenster gesehen. Oh mein Gott«, sagte Málfríður und verstummte bei der Erinnerung. Sie fasste sich wieder und sprach weiter: »Er hat die Stallgebäude abgebrannt, dann hat er die Tierkadaver in die Kohlenkammer geworfen und die Falltür im Frühjahr mit Grassoden abgedeckt. Er hat die Tür, die von der Kammer in den Gang führt, fest verschlossen, und später hat er das andere Ende des Ganges im Keller so verdeckt, dass niemand sehen konnte, dass da mal eine Tür war.«
»Warum?«, fragte Lára, den Tränen nahe.
»Kristín … —«, schluchzte Málfríður. Sie öffnete die Augen und starrte an die weiße Decke. »Papa hasste sie. Ich habe es am Anfang nicht verstanden. Sie war so brav und nett, sehr still, aber stets lieb. Sie war ein paar Jahre jünger als ich, und die wenigen Tage, die sie bei uns war, hat sie sich fast nur um ihre Mutter gekümmert. Papa wollte nicht zu Guðný ins Zimmer, weil er Angst hatte, sich anzustecken, aber das kleine Mädchen saß bei ihr, fütterte sie und achtete darauf, dass Guðný es so gut wie nur irgend möglich hatte. Bis ihre Mutter eines Nachts starb. Kristín war etwas Besonderes, aber Papa sah es nicht. Ich war so froh, dass sie da war, und habe in meiner Einfalt geglaubt, sie würde nach dem Tod ihrer Mutter bei uns bleiben. Aber es kam anders.« Málfríður machte eine kurze Pause. »Anstatt sie bei uns wohnen zu lassen, hat er sie getötet und alle Merkmale beseitigt, so als habe sie nie existiert. Als Kristín geboren wurde, hatte er gehofft, sie würde sich bei ihrem Großvater mit Tuberkulose anstecken und nie erwachsen werden. Er schrieb nie eine Geburtsurkunde für sie, weil er uneheliche Kinder für eine Familienschande hielt. Das kam ihm später zugute.«
»Wie konnte er nur!«, schluchzte Lára. »Ich hätte Guðnýs Kind gerne zu mir genommen und es geliebt wie mein eigenes. Er hätte sie nicht töten dürfen!«
Málfríður drehte ihren Kopf zu Lára. »Er war sehr erzürnt darüber, dass er sich um sie kümmern musste. Papa hatte alles verloren. Sein Bruder Bjarni hatte ihm geholfen, indem er unseren Hof kaufte und alle Schulden übernahm, aber anstatt sich über die Großzügigkeit zu freuen, begann der Samen in Papa zu reifen, der seinem Leben schließlich ein Ende setzte. Er brachte sich um, voller Hass und Scham über das, was er wegen des Geldes getan hatte. Bevor er sich das Leben nahm, hat er mir alles erzählt. Ich glaube, er wollte seinen Seelenfrieden, aber den konnte ich ihm nicht geben.« Málfríður starrte wieder an die Decke. »Ich habe seine Grabinschrift in Übereinstimmung mit seiner Lebensweise gewählt. Das Herz blutet.« Sie verstummte und hustete schwach.
»Ich werde Kristín ausgraben lassen«, sagte Lára, die das Gespräch beenden wollte. Sie hatte genug. »Und neben ihrer Mutter beerdigen lassen. Ich kann nicht darüber schweigen.«
Málfríður richtete sich zum ersten Mal, seit Lára gekommen war, ein wenig auf. »Das brauchst du nicht. Ich habe schon dafür gesorgt, dass es getan wird«, sagte die Alte. »Ich habe meiner Enkelin, Elíns kleiner Bertha, davon erzählt, und sie hat gesagt, es würde alles gut werden. Sie hat versprochen, sich darum zu kümmern.« Málfríður lächelte Lára geschwächt an. »Merkwürdig, dass ich meinen eigenen Kindern nicht davon erzählen konnte, aber dann kam Bertha zu mir, und etwas an dem Mädchen erinnert mich so sehr an Guðný und Kristín. Bertha ist ein guter Mensch. Sie wird das Richtige tun.«
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