Er war nackt und schwarz wie die Nacht. Seine Gesichtszüge schienen nicht recht zusammenzupassen. Ungestüm stürzte er auf Siri zu und baute sich vor ihm auf. Obwohl es sich vermutlich um den kleineren der beiden Kubaner handelte, musste Siri den Kopf in den Nacken legen, um in die leeren, ausdruckslosen Augen des Mannes sehen zu können. Und so standen sie da und wussten nicht, wie es weitergehen sollte. Der Schwarze verlor allmählich die Geduld und wurde wütend. Er blickte Siri über die Schulter und starrte mit unverhohlenem Zorn auf Dtui. Er bleckte die Zähne und hob die Faust, als wolle er sie schlagen.
»Dtui, treten Sie zurück. Stellen Sie sich neben Santiago«, rief Siri.
Sie gehorchte, obwohl sie beim besten Willen keinen Geist sehen konnte. Siri reckte den Hals und breitete die Arme aus. Er ballte die Fäuste und fing kaum merklich an zu zittern. Das Zittern wurde immer stärker und erinnerte Dtui an das lautlose Vibrieren eines Lastwagenmotors. Als sie und Santiago sahen, wie heftig Siri zitterte, wussten sie, dass eine fremde Kraft im Spiel war. Da sie um seine Sicherheit fürchtete, schlang Dtui von hinten die Arme um den Doktor. Aber sosehr sie sich auch anstrengte, sie konnte ihn nicht zur Ruhe bringen.
Da plötzlich erschlaffte er in ihren Armen, und sie ließ ihn zu Boden sinken. Einige Sekunden lang war alles still und stumm. Dtui hielt Siri die Hand vor den Mund, spürte aber keinen Atem. Da schlug er, ebenso plötzlich wie er zusammengebrochen war, die Augen auf und lächelte sie freundlich an.
»Schwester Dtui, ich würde es sehr begrüßen, wenn Sie dem Drang, sich mir an den Hals zu werfen, künftig widerstehen könnten.«
»Ich habe nun mal eine Schwäche für bibbernde Männer«, sagte sie. Santiago war kreidebleich; er trat zu ihnen, um seinen alten Freund zu untersuchen. Er fühlte erst Siri und dann sich den Puls. Siri sah aus, als ob er sich geprügelt hätte. Sein Gesicht war mit rätselhaften blauen Flecken übersät, die sich scharf gegen seine leichenblasse Haut abhoben. Dann kehrte seine Kraft nach und nach zurück, und die blauen Flecken verschwanden vor ihren Augen.
»Das nenne ich eine wundersame Genesung. Offenbar ist doch noch nicht aller Tage Abend, Dr. Siri«, sagte sie.
»Das alles tut mir aufrichtig leid.«
»Sie haben etwas gesehen, nicht?«
»Ja, in der Tat.«
»Was hat es gesagt?«
»Nichts.«
»Aber es hat etwas mit Ihnen angestellt.«
»Dtui, ich bin mir nicht ganz sicher, aber ich habe das dumpfe Gefühl, dass einer unserer kubanischen Freunde sich in mir häuslich eingerichtet hat.«
Das übersetzte sie wohlweislich nicht.
Drei Dinge hatte der Igel unerwähnt gelassen, als er Herrn Geung auf direktem Wege nach Vientiane geschickt hatte. Erstens, dass die Straße diesen gewaltigen Schlenker nur machte, um die Ausläufer der Kuang-Si-Berge zu umgehen, von denen einige selbst für Ziegen zu steil waren. Kaum hatte Geung einen von ihnen schnaufend und ächzend bezwungen, ragte auch schon der nächste vor ihm auf.
Ferner hatte der Igel ihm nicht gesagt, was er tun sollte, wenn der Himmel bedeckt war, da Geung sich am Lauf der Sonne orientierte. Anfangs machte er einfach Rast, ließ sich nieder und wartete, bis die Wolke sich verzogen hatte. Doch je höher er kletterte, desto dichter wurden die Wolken, und die Sonne ließ sich immer seltener blicken. Folglich wurden auch die Wartezeiten immer länger, bis er gegen drei Uhr nachmittags schließlich festsaß. Er befand sich in einer Zwickmühle. Er wusste, dass er weitergehen musste, aber nicht, in welche Richtung. Die Hügel sahen alle gleich aus. Und er hatte keinen Schimmer, welchen von ihnen er soeben überquert hatte. Es gab nichts, woran er sich hätte orientieren können. Die Bäume sahen alle gleich aus.
Aber all das war ein Klacks gegen Punkt drei. Denn trotz der eifrigen Bemühungen von allerlei hungrigen Dorfbewohnern, Drogenschmugglern und Pelz- oder Organhändlern wimmelte es in diesen Hügeln nach wie vor von wilden Tieren. Wären sie ihm über den Weg gelaufen, hätten die meisten vor Herrn Geung vermutlich größere Angst gehabt als er vor ihnen. Doch ein Tigerweibchen, das ihm seit dem Wasserfall nachstellte, hatte keine Angst. Sie musste ihre Jungen durchfüttern, und ihre Suche nach Beute war erfolglos geblieben. Der Mensch, den sie verfolgte, hatte reichlich saftiges Fleisch auf den Rippen und steuerte geradewegs auf ihr Versteck zu. Ganz so als ob sie ihn sich aufs Zimmer bestellt hätte und er nun an ihre Türe klopfen würde.
10
MILLIONEN SPINNEN KÖNNEN NICHT IRREN
Siri kehrte ins Gästehaus Nr. 1 zurück. Santiago setzte ihn dort ab und überschüttete ihn wie üblich mit Worten, die Siri nicht verstand. Siri antwortete gleichermaßen unverständlich, und sie trennten sich mit einem freundschaftlichen Händedruck und schallendem Gelächter.
Bei Kilometer 8 hatte der Kubaner Dtui und dem Doktor zwingende Indizien dafür präsentiert, dass Isandro und Odon sich als Hobbymagier betätigt hatten. Die Beweislage war erdrückend. In zwei Fällen ließ sich beim besten Willen keine andere Erklärung finden. Der erste betraf eine Vietnamesin, die mit den vietnamesischen Ingenieuren nach Vieng Xai gekommen war. Sie kochte für sie und erledigte ihre Wäsche. Wie sich bald herausstellte, war sie eine unverbesserliche Rassistin. In ihren Augen standen Schwarze auf der Evolutionsleiter gerade einmal eine Sprosse höher als Primaten, und mit diesen Ansichten hielt sie nicht hinterm Berg. Immer, wenn sie den beiden Kubanern auf dem Krankenhausgelände begegnete, beschimpfte sie die Männer lauthals und mit stolzgeschwellter Brust als Affen. Da sie die beiden für zu dumm hielt, ihre Sprache zu verstehen, begleitete sie ihre Schmähungen mit eindeutigen Gesten.
Sie war eine wenig attraktive Frau von abscheulichem Charakter, doch einsame Männer in einem fremden Land haben die unselige Neigung, derlei Schwächen geflissentlich zu übersehen. Und so begab es sich, dass die Frau schwanger wurde. Sie verkündete, das Wunder der unbefleckten Empfängnis sei ihr widerfahren, und da sich keiner der Männer freiwillig zu seiner Vaterschaft bekannte, glaubten die Einheimischen ihr die Geschichte. Sie wussten, dass ihr das Gelegenheit gab, einen liebestollen Soldaten übers Ohr zu hauen und zur Heirat zu zwingen. Trotzdem schwor sie bis zuletzt, sie sei noch Jungfrau.
An dem Morgen, als sie ins Krankenhaus gebracht wurde, war Santiago nicht zugegen. Sie war im siebten Monat, und etwas Fürchterliches musste geschehen sein. Der junge laotische Chirurg, der in jener Nacht Dienst tat, glaubte die Blutung nur stillen zu können, indem er den Fötus entfernte. Die Entscheidung lag bei ihm, und niemand zweifelte an seinem Urteil. Aber die Frau starb auf dem OP-Tisch. Der laotische Arzt war untröstlich. Als Santiago vormittags zum Dienst erschien, war der junge Mann volltrunken und redete wirres Zeug. Der alte Arzt versuchte ihn zu beruhigen, ohne Erfolg. Ihm wurde klar, dass es hier um weitaus mehr ging als um die bloße Trauer eines Arztes, der einen Patienten verloren hatte. Da musste etwas anderes dahinterstecken. Santiago sprach mit der Oberschwester. Sie sagte, der Chirurg habe sie aus dem OP-Saal geschickt, bevor sie einen Blick auf den Fötus habe werfen können. Dann habe er ihn eigenhändig in die Totenhöhle gebracht, wo er noch am selben Abend eingeäschert werden sollte. Santiago war von der Geschichte so fasziniert, dass er zur Höhle hinaufstieg, wo er einen kleinen Leinensack fand, in dem er das Kind der Vietnamesin vermutete. Doch was er darin entdeckte, war nicht menschlich. Der Sack enthielt den unfertigen Fötus eines Affen.
Sowohl Siri als auch Dtui hielten dieses Schauermärchen für frei erfunden, doch der Erzähler schien glaubwürdig und noch dazu erstaunlich ruhig. Seine zweite Geschichte war nicht minder seltsam. Ein Parteikader aus Havanna war eigens angereist, um sich von der korrekten Verwendung kubanischer Hilfsgelder bei einem der wenigen humanitären Überseeprojekte seines Landes zu überzeugen. Er wollte eine Woche bleiben, die Bücher prüfen und danach die Heimreise antreten. Eigentlich nichts Besonderes, doch der Kubaner war ein aufmerksamer Mann und kannte sich mit den Palo-Bräuchen recht gut aus. Gleichwohl war er der Kommunistischen Partei Kubas verpflichtet und hatte keine Lust, seine Zeit mit Magie zu vertändeln. Die Partei hatte ihm beigebracht, der Schamanismus sei weiter nichts als Opium für das Volk, das besser daran täte, sich am Sozialismus zu berauschen.
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