»Ich glaube, wir können sie retten«, rief Santiago den anderen zu. Er kletterte mit dem Mädchen im Arm aus dem Wassergraben und hastete auf die blaue Tür zu. Dtui und Siri konnten kaum Schritt halten. Im Eingang blieben sie stehen und sahen dem alten Kubaner nach, der die Böschung hinab auf das Krankenhaus zueilte. Dtui legte Siri lächelnd den Arm um die Schulter.
»Gute Arbeit, Dr. Siri. Und wie sollen wir Santiago das alles erklären?«
»Obwohl ich für eine gute Lüge stets zu haben bin, fürchte ich, wir werden ihm die Wahrheit sagen müssen.«
»Meinen Sie wirklich? Lügen wäre vermutlich einfacher.«
»Ach, ich glaube kaum, dass der hagere alte Löwe sonderlich erstaunt sein wird. Ich habe das dumpfe Gefühl, dass ihm all das nicht gerade neu ist.«
Sie wandte den Kopf, und der Strahl ihrer Lampe bohrte sich in die Stahltür. »Sagen Sie. Was ist das Ihrer Meinung nach für eine Farbe, Doc?«
»Grün.«
»Sie sind farbenblind, nicht wahr?«
»Wenn das kein Grün ist, muss ich wohl farbenblind sein. Mir graut bei der Vorstellung, was Frau Wunderlich mir noch alles vererbt hat.«
Panoy erwies sich als erstaunlich zäh. Gegen ihre gebrochenen Rippen ließ sich wenig machen, doch sie richteten ihr beide Arme und ein Fußgelenk, nähten zwei tiefe Schnittwunden und hängten sie an einen Tropf, der ihr die verlorene Energie nach und nach zurückgeben würde. Meej blieb bei ihr und überprüfte im Lauf der Nacht immer wieder ihre Vitalfunktionen.
Siri, Santiago und Dtui saßen in ihre Jacken gehüllt unter dem nachtschwarzen Himmel. Es war zwar kalt, aber nicht so unangenehm, dass sie ein Feuer hätten machen müssen. Der Reiswhisky kurbelte ihren Kreislauf an. Siri sah schweigend zu, wie Dtui mit Hilfe ihres zerlesenen Wörterbuches und einer Taschenlampe Siris Verbindungen zur Geisterwelt zu erklären versuchte. Sie erzählte Santiago von dem tausend Jahre alten Schamanen namens Yeh Ming, der in Siris Körper hauste. Sie erklärte ihm, besagter Geist warte geduldig darauf, dass Siri friedlich eines natürlichen Todes starb, damit er sich aus dem Schamanengeschäft zurückziehen konnte. Sie erzählte ihm von den dreiunddreißig Zähnen und den Träumen und dem weißen Talisman, der Siri zur Abwehr böser Geister diente. Währenddessen achtete Siri auf die Reaktionen seines alten Freundes. Sie waren nicht leicht zu deuten, denn Santiago schien sämtliche Informationen erst einmal fein säuberlich in eigens dafür vorgesehene Schubladen seines Gehirns zu sortieren. Als Dtui fertig war, sah der Kubaner Siri mitleidig an. Er nahm die ewige Zigarette aus dem Mund und ließ seinen Kopf in einer Rauchwolke verschwinden. Dann blitzte so etwas wie Bewunderung auf in seinen Augen, und er fing schallend an zu lachen. Er füllte ihre Gläser nach und klopfte seinen beiden Kollegen auf den Rücken, als sei das die beste Nachricht, die er seit Langem erhalten habe.
Siri war von Neuem zur Untätigkeit verdammt, als Santiago seinerseits zu einer Geschichte anhob. Dtui unterbrach ihn mehrmals, um die eine oder andere Frage zu stellen, machte hier ein schockiertes, da ein fasziniertes Gesicht und hob am Ende seufzend die Augenbrauen. Dann herrschte Schweigen.
»Was? Was ist?«, fragte Siri nervös, weil er sich übergangen fühlte.
»Ach, hallo, Doc. Sie hier?«, sagte Dtui lächelnd. »Tut mir leid, aber ich bin todmüde und …«
»Schwester Chundee Vongheuan, wenn Sie mir nicht auf der Stelle …«
Sie kicherte. »Kleiner Scherz am Rande, Doc. Keine Panik.« Sie trank einen Schluck Whisky, machte es sich auf ihrem Stuhl bequem, so gut es ging, und begann mit Santiagos Geschichte. »Jetzt, wo er weiß, was Sie für ein sonderbarer Kauz sind, rückt der alte Knabe endlich damit heraus, was hier oben wirklich passiert ist. Wie es aussieht, steckte in den beiden Pflegern doch ein wenig mehr, als wir dachten. Er hatte Angst, wenn er Ihnen davon erzählt, halten Sie ihn womöglich für verrückt, darum freut es ihn umso mehr, dass wir jetzt drei Spinner sind.«
Santiago sah Dtui grinsend an, als würde er die Geschichte, die er ihr soeben erzählt hatte, ein zweites Mal genießen. Er kippte einen Schluck Whisky wie ein Feuerspucker, der gleich einen mächtigen Flammenstrahl ausstoßen wird.
»Wie es scheint«, begann Dtui, »haben auch die Kubaner Schamanen und enge Verbindungen zur Geisterwelt. Es gibt große Kulte und kleine Kulte. Viele Priester dieser Kulte sind Schwindler und Betrüger. Aber einige von ihnen sprechen tatsächlich mit den Geistern.«
»Glaubt Dr. Santiago das im Ernst?«, fragte Siri.
Wieder lachte Santiago, als Dtui ihm die Frage übersetzte.
»Ja, er glaubt fest an die Geisterwelt. Er sagt, er habe einfach zu viel gesehen und erlebt, wofür es keine wissenschaftliche Erklärung gibt. Er sagt, wenn Sie möchten, nimmt er sich gern zwei Wochen Zeit und erklärt Ihnen die Riten von Palo und – wie hieß das noch gleich, Santería?« Sie sah zu Santiago; der nickte. »Das muss aber nicht sein, oder?«
»Nicht unbedingt.«
»Gut. Dann kommen wir zur Sache: Er hat die beiden Kubaner nämlich nicht etwa nach Hause geschickt, weil sie mit den Mädchen aus dem Dorf geschäkert hätten. Das war nichts weiter als eine Ausrede für die Behörden in Havanna. Die Gründe waren andere. Da er mit ihrer Arbeit sehr zufrieden war, handelte es sich offenbar um etwas Ernstes, sonst hätte er wohl kaum aus freien Stücken auf zwei erfahrene Assistenten verzichtet.«
Sie verstummte.
»Und was war der wahre Grund?«
»Das wollte er mir nicht verraten.«
»Was?«
»Er sagt, er will uns morgen früh zu ihrer Höhle führen, damit wir uns selbst ein Bild machen können. Frustrierend, nicht?«
»Und wie.«
Kein Schmollen und kein Flehen hätte den Kubaner zum Einlenken bewegen können.
Sie leerten ihren Schlummertrunk und zogen sich zu ihren Schlafplätzen in den Klassenzimmern der nahe gelegenen Mittelschule zurück.
Für Siri hatte man zwei Steppdecken im Raum der 2. Klasse ausgebreitet. Jemand hatte mit Kreide WILLKOMMEN, BESUCHER an die Tafel geschrieben. Doch als er sich dem Zimmer jetzt näherte, bemerkte er, dass die Tür offen stand und sonderbare Geräusche in den Korridor drangen. Pulte wurden verrückt. Irgendetwas fiel zu Boden und zerbrach. Ein tiefes Schnauben und Prusten, das unmöglich von einem Menschen stammen konnte. Er wollte eben Hilfe holen, als ihm einfiel, dass er keine Ahnung hatte, wofür – oder wogegen – er Hilfe brauchte. Er schloss die Finger um das Amulett und marschierte festen Schrittes zur Tür.
Im Schein der kleinen orangefarbenen Kerze, die ihm jemand auf das Lehrerpult gestellt hatte, bot sich ihm ein bizarrer Anblick. Fünf Büffel drängten sich in dem kleinen Raum und wetteiferten um einen Platz vorn an der Tafel. Ein Tier hatte sich dagegen gelehnt, und jetzt prangte der Schriftzug
wie ein Brandzeichen auf seiner Flanke. Zwei hatten bereits einen Ehrenplatz ergattert und lagen links und rechts von Siris Steppdecke auf dem nackten Lehmfußboden wie zwei riesige Umarmungskissen. Als er das Klassenzimmer betrat, sahen alle zu ihm auf und lächelten. Soweit Tiere ohne Vorderzähne zum Lächeln in der Lage sind.
9
VON SCHWEINEN UND WARZEN
Langsam schlug Herr Geung die Augen auf. Alles war verschwommen. Die Farben schienen ineinanderzulaufen. Ein Hahnenschrei verriet ihm, dass es Morgen war: Die Sonne warf Lichtfäden aus wie eine Spinne, die das Netz eines neuen Tages baut. Zwar war er zeit seines Lebens bei Sonnenaufgang erwacht, aber noch nie so wie hier und jetzt. Er befand sich, nein, nicht in einem Haus, denn es hatte keine Wände, aber unter einem Dach. Alle anderen schliefen noch. Er wollte sich aufrichten, doch eine Körperhälfte war völlig steif. Er verspürte einen dumpfen Schmerz, als habe die ganze Nacht ein schweres Gewicht auf seiner Brust gelastet. Er sah an sich hinunter und stellte fest, dass er Hose und Stiefel anhatte. Sein Oberkörper hingegen war nackt, bis auf einen langen, schmutzigen rosa Verband, der sich fest um Brust, Hals und Oberarm wand. Vorsichtig betastete er die Bandage, die gestern noch nicht dagewesen war, und fragte sich, wozu sie dienen mochte. Als seine Finger eine Stelle an der rechten Schulter berührten, zuckte er vor Schmerz zusammen. Es musste sich wohl doch um etwas Ernstes handeln. Er konnte sich weder an den Schuss noch an das Blut erinnern; er wusste nur, dass er schnellstmöglich nach Vientiane und ins Leichenschauhaus gelangen musste. Er setzte sich auf.
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